Funkentstört und nicht vorbestraft

Erstes Theaterprojekt des Videoaktivisten Kain Karawahn in der Volksbühne  ■ Von Thorsten Schmitz

Geschieht uns ja ganz recht! Weshalb mußten wir auch so blind und inflationär in Bildern baden. In Fotos und Filmen, bis der Schlaf uns trennte. Es mußte so kommen: daß irgendwann eine Kamera nicht mehr zu stoppen ist. Und filmt und filmt. Wir sind schuld daran – und Kain Karawahn.

Der Videoaktivist eröffnete seinen allerersten Theaterabend – im dritten Stock der Volksbühne – als Mitmachkomödie. Ein paar von den Zuschauern kriegen Fernbedienungen in die Hand gedrückt. Von freundlichen Animierdamen, fett geschminkten Ansagerinnen, die uns zappen ließen. Wir sollen ein Bilderchaos programmieren (Ich auch, aber ich konnte ja nicht umschalten und mitschreiben zugleich, weshalb ich meine Fernbedienung meinem Sitznachbarn gab. Der war erfreut darüber – und ein Fachmann: „Wissen Sie, was bleibt einem denn anders übrig, nachts im Hotel, allein, und der Fernseher am Bett.“ – „Lesen vielleicht?“ flüsterte ich ihm zu. Antworten konnte er mir nicht mehr, weil in diesem Moment die Anklageschrift verlesen wurde.)

Sieben Staatsanwältinnen und Staatsanwälte und ein Richter (als einzige eitel und blaß: Käthe Be) berichten von ihren größten Erfolgen. Einer hat für Michael Jacksons sexuelle Unschuld erfolgreich gestritten, der andere erwirkt, daß der Spiegel Marcel Reich-Ranickis Konterfei nie wieder ohne dessen Erlaubnis als Titelbild verwenden darf. Die Anwälte waschen sich an einem Wasserfall von aller Schuld frei. Und stellen in scheinheiligem Pathos fest, die Angeklagte „Kamera Panasonic“ – funkentstört und nicht vorbestraft – habe „durch selbständige Handlungen selbständig Bilder produziert“, „unbeteiligte Dritte“ diesen ausgesetzt und eine „Mediendebatte“ entfacht. (Jetzt schon mal ein Applaus für diese reizvolle Idee!)

Die Anklageschrift liest sich wie eine Depesche aus Kanzleramt und päpstlicher Nuntiatur: Die Kamera produziere ständig Bilder und somit ein Scheinwissen. „Das bedeutet eine große Gefahr“, belehrt uns der Staatsanwalt besserwisserisch. Und unglaubwürdig, denn er selbst ist dem Charme einer Videoaufzeichnung erlegen: via Monitor kommt er uns. Schweigend registriert die Angeklagte die Vorwürfe; als sei sie von Pest gezeichnet, ist ihr Antlitz mit feuerrotem Tuch verhüllt. Auch dann keine Reaktion, als Mamasonic und Papasonic als Zeugen gehört werden. Vor ihrer Vernehmung müssen die beiden schwören – auf Hörzu, die Bibel der deutschen Fernsehnation. Es sind ganz stolze Eltern, die da von der Brennweite ihrer Tochter schwärmen, von deren Fähigkeit zu fokussieren. Und gruselig und faszinierend gespielt: Während Mamasonic (ganz vorzüglich: Karin Ugowski) ihre Tochter streichelt und mit aller ihr zur Verfügung stehenden Zuneigung die Lippen schürzt, hält Papasonic die entscheidenden Szenen mit einer Handvideokamera fest: Mamasonic und Papasonic sind wie diese Pauschaltouristen, die auf dem Flug an die Costa Brava selbst noch das Check-in-Procedere für den Homemovie bannen müssen. Begleitet wird der zweistündige Prozeß von vielleicht zehn flimmernden Mattscheiben. (So genau weiß ich das nicht mehr, denn wenn ich fertig durchgezählt hatte, tauchte garantiert irgendwo noch eine auf.)

Es ist ein heiliger Prozeß, der sich vor unseren Augen abspielt. Einer, in dem alle ihre Besinnung verlieren, weil die Macht der Bilder flötengeht. Ihr Verlust treibt die Menschen ins Chaos. Aber auch ihre ungezügelte Verbreitung: Sehen ist Fressen mit den Augen. Am Ende stottert und deklamiert, preßt hervor und beschwört ein Videokamerad (am faszinierendsten: Henrik Lauerwald) 15 Minuten lang. Er inkarniert Bilderwut und -flut; ein elegisches Pausenbild. Und er schließt seinen Appell biblisch: „Laßt uns schließen unsere Augen!“ Woraufhin die angeklagte Kamera erst Seifenschaum, dann Blut kotzt. Und schließlich explodiert.

Weitere Aufführungen: heute bis 31.5., 2. bis 6.6., 21 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 3. Stock, Mitte