Die unaufgeweichte Familie

Als alleinerziehend Reisender in einem Familienhotel  ■ Von Thomas Winkler

Es ist Vorfrühling in Deutschland, aber der hier liegende Schnee scheint noch nicht restlos von dieser Tatsache überzeugt zu sein. Pappig und schwer und weit entfernt von seiner klassischen Farbe verteilt er sich dürftig auf den matschigen Wiesen, die feuchtgrün leuchten zwischen den grauen Erhebungen, die sich Bayerischer Wald nennen. Mittendrin der Zweck unseres Aufenthaltes zu dieser unwirtlichen Jahreszeit: das Sporthotel Reutmühle. Ein rustikal gehaltener Kasten, umgeben von einem Heer kleinerer Apartmenthäuser. Wandert man einen der Wege hinauf, die direkt hinter der Anlage in den Wald führen, kann man von oben erkennen, daß auf der gegenüberliegenden Seite der Straße neun Löcher Golf auf günstigere klimatische Bedingungen warten.

Mit ein wenig Glück finden Hanna und ich fast jedesmal eine Strecke, auf der wir die Wiese mit den hoteleigenen Plastikrodeln bewältigen können, ohne allzu viele Maulwurfshügel einzuebnen. Über uns führt ein kleiner Weg zum Sportpark, dessen fünf Tennisplätze und die zugehörige Schule vor einiger Zeit Niki Pilic mit einem Besuch weihte. Unbekannt ist, ob der Davis-Cup-Kapitän auch die Squash-Courts, das Fitneß-Studio, die Tischtennisplatten oder gar die „Beauty & Health Farm“ mit Wohlgefallen bedachte. Mir fehlt zum Wohlgefallen allerdings der Tennispartner.

Das Sporthotel Reutmühle, gelegen nördlich von Passau nahe der österreichischen und tschechischen Grenze, bietet – neben den einschlägigen überdachten Möglichkeiten – an Sportangeboten in unmittelbarer Nähe, was diese Gegend so hergibt: Wanderwege und Langlaufloipen, schneesicheren Alpinski bis Ende März, Schlittschuhlaufen, eine Rodelbahn und sogar Eisstockschießen. Im Hotel selbst ein Hallenschwimmbad, Sauna und Dampfbad, Solarien und für die gemütlicheren unter uns Kegelbahnen.

Reutmühle wäre ein Sporthotel wie hundert andere, die den Bewohnern des „Freizeitparks Deutschlands“ (H.K.) die Auslastung verschaffen, die ihnen im Beruf angeblich fehlt, wäre die Hotelanlage in ihrem Angebot nicht ausgerichtet auf Sportbekloppte, denen die eigenen Kinder gerade im Urlaub oft genug einen Strich durchs lustvolle Schwitzen machen. Über den üblichen Hotel- Service hinaus können die störenden Gören sich im Kinderclub mit den Leidensgenossen über die schofeligen Alten austauschen – wenn sie vor lauter Programm, zwischen Popcornmachen, Kneten oder Rodeln, überhaupt dazu kommen. Erzieherin Andrea genießt ihren Job und vermißt die Zeit in einem normalen Kindergarten kein bißchen: „Es ist doch schön, wenn die Kinder häufiger wechseln. Und – um ehrlich zu sein – bei manchen ist man doch froh, wenn sie wieder weg sind.“

Ein weiterer Vorteil, endlich Zeit für all das zu haben, was einem sonst verwehrt bleibt, sind die Kontakte, die die lieben Kleinen im Kinderclub knüpfen. Beim Abendessen, das sich gerne reichlich ausufernd über mehrere Gänge hinzieht, nervt meine Fünfjährige nicht mehr gelangweilt, sondern hält neue Bekanntschaften an Nachbartischen von deren Spaghetti mit Tomatensoße oder Bratwürstchen ab. Nach zwei, drei Tagen gebe ich es dann auch auf, wenigstens die dabei produzierte Lautstärke drosseln zu wollen, weil ich dafür mehr scheele Blicke ernte als Hanna jemals zuvor.

Die Kontaktfreudigkeit der Kleinen erspart einem nach hektischer Nahrungsaufnahme nicht nur den sofortigen Gang ins Apartment zu Mensch-ärgere-dich- Nicht und Vorlesen, sondern bringt einem selbst das eine oder andere Glas in Gesellschaft ein. Dirk und Kristin aus Magdeburg sind wie ich das erste Mal hier und finden es „toll“, auch wenn der Fleischermeister die – seiner Meinung nach täglich aufgetischten – „Schweinelendchen nicht mehr sehen kann“. Der begeisterte Angler, der aus Prinzip keinen Fisch ißt, kann hier zwar nicht seinem Hobby nachgehen, versucht sich dafür aber beim Schlittschuhlaufen und im sportzentrumseigenen Kraftraum, auch wenn „das alleine etwas langweilig ist“. Kristin weigert sich trotz guten Zuredens beharrlich, es ihrem Männe muskelmäßig gleichzutun. Die beiden Töchter, acht und vier Jahre alt, fühlen sich, wie Hanna, wohl im Kinderclub und sind nach den stundenlangen Wanderungen abends „so groggy, daß man sie bequem ins Bett bekommt“. Und da könnte man dann tatsächlich eines der Babyphone an der Rezeption ausleihen und sich aus dem Apartment in die Bar schleichen – wenn man selbst nicht so fertig wäre.

Wenn man am anderen Morgen trotzdem nicht völlig ausgeschlafen hat, muß man aufpassen, daß man im Frühstücksraum mit klüsigen Augen nicht über Babyspielzeug stolpert. Das ist so ziemlich das einzige, was man fürs Kleinkind selbst mitbringen muß. Im Hotel ausleihen kann man vom Hochstuhl über den Wickeltisch bis zum Buggy so ziemlich alles. Und selbst die Allerkleinsten können zumindest stundenweise von einer ehemaligen Mitarbeiterin, die gleich nebenan wohnt, betreut werden – vorausgesetzt, die Babys selbst machen mit. Ganz klar, daß man in Reutmühle auf eine gewisse Eleganz verzichten muß, die der eine oder andere im Hotel vielleicht erwartet. Direktor Siegfried Prange, vormals in Steigenberger- und Mövenpick-Hotels, vermißt gerade das nicht: „Die klassische Hotellerie ist auf reiner Fassade aufgebaut – auf beiden Seiten. Ich fühle mich hier wohler, auch weil ich nicht im Anzug kommen muß und meine eigenen Kinder mal mitbringen kann.“

Die Marktlücke Familienurlaub mit Kinderbetreuung mußte das Sporthotel Reutmühle finden, weil die Auslastung gefährlich zurückgegangen war. Seit 1990 werden 40 Stunden Kinderbetreuung und -programme wöchentlich geboten, und seitdem wurde das Angebot immer weiter ausgebaut. So soll es bald auch abends Betreuungsmöglichkeiten geben und ein extra Gelände für Kindersport angepachtet werden. Noch vorhandene Schwächen sieht Prange vor allem „im Bereich Alleinreisender“. Deshalb soll es demnächst auch Basketball und Volleyball für Menschen wie mich geben, die ihre Sportpartner nicht gleich selbst mitbringen. Aber: „Familien aufzuweichen, ist relativ schwierig. Und wir wollen keinen Clubcharakter mit hohem Animationsgrad.“

Ohne den nötigen Grad an Animation zieht die unaufgeweichte Familie Hanna und ich meist einsam ihre Runden, besucht das lauschige Städtchen Waldkirchen, wo zu dieser unwirtlichen Jahreszeit aber das Museum „Goldener Steig“ geschlossen ist. Soviel verrät uns aber immerhin eine Schautafel: Der Goldene Steig verband Bayern und Böhmen und war der verkehrsreichste mittelalterliche Salzhandelsweg Süddeutschlands. Ein Verkehrsknotenpunkt ist die Gegend nicht mehr, aber diese unzweifelhaft positive Tatsache interessiert Hanna nun wirklich nicht.

Sporthotel Reutmühle, Frauenwaldstr. 7, 94065 Waldkirchen, Tel.: 08581-2030. Buchungen (auch andere spezielle Eltern-Kind-Angebote) über KUF-Reisen, Hochbrückenstr. 10, 80331 München, Tel.: 089-22 50 80.