Crack und dann nach Hause zum Abendessen

In der amerikanischen Hauptstadt steht die schwarze Community vor der Feuerprobe. Acht Jahre nach dem Einzug von Crack fühlt sich die Polizei machtlos gegenüber der Gewaltspirale und dem doppelten Wertesystem.  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Es riecht nach Bohnerwachs. Die Fußböden sind spiegelglatt. Kein Spind ist verbeult oder mit Graffiti besprüht. Die Glasvitrinen mit Pokalen und Urkunden sind frisch geputzt, und in der altmodisch braun-gelb gestrichenen Aula hängt eines der vielen Transparente, die an die Vorwärts-Parolen in DDR-Betrieben erinnern. „Der Schlüssel zu schulischem Erfolg: Zuverlässigkeit, Tüchtigkeit und Effektivität“.

Die „John Sousa Middle School“ im Washingtoner Stadtteil Anacostia widerspricht allen Klischees von öffentlichen Schulen in amerikanischen Großstadtghettos. William Lipscomb, der Direktor, lächelt – teils amüsiert, teils triumphierend. „Es gehört zu meinem Job, Leute von außen auszutricksen und ihnen zu zeigen, daß wir gar nicht so schlimm sind.“

„Leute von außen“ – damit sind vor allem weiße Washingtoner gemeint, die ihr Wissen über Anacostia aus den Fernsehauftritten der Polizeireporter schöpfen. Oder aus Titelfotos der Zeitungen, auf denen Sicherheitsbeamte allmorgendlich mit Metalldetektoren die SchülerInnen nach Waffen absuchen – so wie in der John Sousa Middle School. „Durch diese Türen gehen unsere kostbarsten Schätze – unsere Kinder“ steht in großen Buchstaben über dem Eingang der Schule. Diese Schätze muß man schützen. Auch vor sich selbst.

Wie jeden Montagmorgen bleiben die Klassenzimmer in der ersten Stunde leer. Nur vor der Aula herrscht Betrieb. Auf Kommando der LehrerInnen füllen die SchülerInnen im Gänsemarsch eine Sitzreihe nach der anderen. Kein Gerempel, kein Gebrüll, kein Feixen, nur gedämpftes Reden mit dem Nachbarn, als wartete man auf den Beginn einer Theatervorstellung. „Familientreffen“ nennt Lipscomb die allwöchentliche Versammlung mit dem Lehrerkollegium und den fünfhundert SchülerInnen. Eigentlich ist es ein Ritual der Beschwörung: Der Direktor wird wie immer eindringliche Worte an die Jugendlichen richten, an ihr Durchhaltevermögen und ihren Ehrgeiz appellieren und ihnen immer wieder eintrichtern: „Ihr könnt alles erreichen, wenn ihr es nur wollt.“ Zwischen den Zeilen heißt das: „Steigt nicht aus der Schule aus. Fangt auch diese Woche keinen Streit an, der tödlich enden kann. Laßt die Finger von Waffen und Drogen. Benehmt euch nicht so, wie die von außen es erwarten. Laßt euch nicht unterkriegen.“

Wie jeden Montag hat Lipscomb einen Gast aus der afroamerikanischen Community eingeladen. Einen, dessen Biographie jenes amerikanische Credo zu bestätigen scheint, daß die Möglichkeiten des einzelnen unbegrenzt sind – auch dort, wo die Spielplätze vor dem Haus mit Crackröhrchen übersät sind und Gangmitglieder im Sommer das vollbesetzte Freibad unter Feuer nehmen. Isaac Fulwood, Ex-Polizeipräsident der Stadt Washington, ist jedenfalls einer, der trotz Armut und Diskriminierung den Weg nach oben geschafft hat – und am Ende fast verzweifelt wäre.

Der Mann mit dem silbergrauen Haar und der imposanten Statur ist nicht gerade ein begnadeter Redner für seine ZuhörerInnen, die mit der Sprache der Videoclips großgeworden sind. Um freundliche Großväterlichkeit auszustrahlen, ist er mit seinen 54 Jahren zu jung; für einen Auftritt als HipHop-Cop, der mit Rap-Songs an Schulen gegen Gewalt und Drogen mobilisiert, ist er zu alt. Doch die meisten Jugendlichen kennen den „Chief“ noch aus dem Fernsehen; manche haben ihn auf der Straße getroffen, wenn er an einem der unzähligen Tatorte auftauchte, an dem die Ambulanz gerade das soundsovielte Mordopfer auflas. Mit eigenen Augen zu sehen, was die Spirale aus Drogen, Waffenkult und Gewalt in seiner Stadt – und in seiner Familie – anrichtete, war für den Polizisten Isaac Fulwood zu einer Obsession geworden. Das mag der Grund sein, warum ihm fünfhundert Teenager an diesem Morgen aufmerksam zuhören. Dieser Cop hat all das durchgemacht, was ihnen tagtäglich zugemutet wird.

„Wie viele von euch“, fragt Fulwood in der Aula, „waren bereits Opfer eines Gewaltverbrechens?“ Etwa dreißig Arme gehen hoch. „Wie viele haben schon einmal mit angesehen, wie jemand niedergeschossen wurde?“ Etwa die Hälfte hebt die Hand. Fulwood stellt diese Frage in jeder Schule, in der er spricht – und in jeder Schule bietet sich das gleiche Bild: Ein kleines Meer in die Luft gereckter Hände. „Mein Gott“, sagt er später, als Lipscomb ihn nach Ende des „Familientreffens“ hinausbegleitet, „das sind zwölf- oder dreizehnjährige Kinder. In dem Alter sollte eigentlich noch nichts bedrohlich sein.“

Isaac „Ike“ Fulwood ist in Washington geboren und aufgewachsen. Für ihn ist die Stadt nicht Regierungssitz, sondern Heimat, mit der ihn ein glühender Lokalpatriotismus verbindet. Um so mehr quält ihn das Etikett „Mordhauptstadt“, das Washington in den letzten Jahren nach Veröffentlichung der neuesten FBI-Statistiken immer wieder aufgedrückt worden ist. Um so mehr quält ihn, daß sich sein Stadtteil Anacostia, in dem er seit Jahren wohnt, in ein soziales Notstandsgebiet verwandelt hat. „Als ich anfing, Streife zu laufen“, sagt er, „da haben die Leute im Sommer nachts auf der Veranda geschlafen.“ Als er fast dreißig Jahre später seinen Rücktritt vom Posten des Polizeichefs bekanntgab, war es in Anacostia längst üblich, nachts die Fenster gegen Kugeln zu verbarrikadieren.

Washington ist auf den ersten Blick eine überschaubare Stadt mit knapp 600.000 EinwohnerInnen und einem urbanen, manchmal europäischen Charme. Der metropolitane Glanz von New York, Chicago oder Miami fehlt – unter anderem, weil in der Haupstadt der USA keine Hochhäuser gebaut werden dürfen. Die metropolitane Trostlosigkeit scheint es ebenfalls nicht zu geben. Anacostia sieht eben nicht wie ein Ghetto aus, sondern wie eine Kleinstadt mit Einfamilienhäusern, Gärten und großen Parkanlagen. Nur wer genau hinsieht, merkt, daß hier kaum Supermärkte und Kleingewerbe, dafür aber zahlreiche Schnapsläden offenstehen; daß inmitten der Eigenheimidylle viele Fenster vernagelt sind und in bestimmten Wohnblocks kein Mensch vor die Tür geht, wenn es nicht unbedingt sein muß. Die Touristen ahnen beim Blick auf den praktisch faltbaren Stadtplan, daß Flüsse und Grünanlagen unsichtbare Grenzen sind: Westlich des Rock Creek Park residieren die Botschaften und die weiße Mittel- und Oberschicht, im nordöstlichen Teil der Stadt wohnt die schwarze Mittelschicht. „Southeast“, der Südosten, der unmittelbar an das Regierungsviertel angrenzt, ist Synonym für Krisengebiet. Anacostia, südlich des gleichnamigen Flusses gelegen, ist auf dem Stadtplan gar nicht mehr zu sehen. Nur wenige Nischen der Stadt sind integriert. Genau vierzig Jahre nachdem Präsident Eisenhower die Aufhebung der Rassentrennung an allen Schulen und öffentlichen Einrichtungen in Washington angeordnet hat, ist Washington weiterhin in Schwarz und Weiß getrennt.

Als Isaac Fulwood am 23. November 1964 zum ersten Mal die Uniform des „Metropolitan Police Department“ überzog, waren schwarze Polizisten eine kleine Minderheit. Sie durften weder Streifenwagen benutzen noch in weißen Wohngegenden patrouillieren. Schwarze Bürger galten im Jargon ihrer weißen Kollegen als „Nigger“, an denen man ab und an mit dem Schlagstock oder mit dem Revolver Allmachtsgefühle austoben konnte – ohne Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Entsprechend feindselig wurden die ersten Schwarzen in Uniform von ihren Kollegen empfangen. Weiße Polizisten weigerten sich, mit Fulwood zusammenzuarbeiten; manche verkehrten mit ihm im Jargon eines Plantagenbesitzers.

Fulwood wehrte sich, drohte in einem Fall einem weißen Vorgesetzten sogar Prügel an, doch vieles mußte er mit einem Panzer vorgeschützter Unangreifbarkeit ertragen. „Sieben Jahre hat es gedauert, bis sie mich das erste Mal befördert haben.“ Er sagt das ganz sachlich, als handelte es sich bei der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht um eine wissenschaftliche Entdeckung, die den Weißen erst noch bevorstand.

Heute besteht die Washingtoner Polizei mehrheitlich aus AfroamerikanerInnen. Das ist weniger einer bewußten Integrationspolitik als dem demographischen Wandel geschuldet: Mitte der sechziger Jahre hatte sich ein großer Teil der weißen Mittel- und Oberschicht bereits mit gepackten Kisten auf den Weg nach Suburbia gemacht – weg von der Stadt mit ihren Armutsecken; weg von der Stadt, in der sich Schwarze anschickten, in weiße Domänen vorzudringen.

Die Aussicht auf gemischte Schulen, Restaurants, Kinos oder gar Wohnviertel, die die Bürgerrechtsbewegung in der Hoffnung auf eine integrierende Gesellschaft erkämpft hatte, bestärkte den Fluchtreflex vieler AngloamerikanerInnen – auch im damals weißen Anacostia: Wer heute in der Eingangshalle der John Sousa Middle School die Fotos der Abschlußjahrgänge studiert, wird unter den Schulabgängern aus dem Jahr 1955 keinen einzigen Schwarzen entdecken; neun Bilder weiter, unter der Überschrift „1964“, ist kein weißes Gesicht mehr zu sehen. 1950 stellten die Schwarzen in der US-Hauptstadt mit 35 Prozent noch die Minderheit; 1960 wurde Washington zur ersten Stadt mit einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit; 1970 waren 70 Prozent der Einwohner AfroamerikanerInnen.

Die Emigration der Weißen kam die Stadt im wörtlichen Sinne teuer zu stehen: Das Steueraufkommen begann einen stetigen Prozeß der Schrumpfung, der auch heute noch anhält. Zwar verdienten viele Weiße weiterhin ihr Gehalt innerhalb des „District of Columbia“, doch die Steuern kassierten nun die Vorstadtkommunen in den angrenzenden Bundesstaaten Virginia und Maryland. Zurück blieben ein kleine weiße Minderheit, ein schwarzer Mittelstand und eine wachsende Anzahl armer Schwarzer. Darunter befanden sich Tausende von MigrantInnen, die, wie Isaac Fulwoods Eltern, während der „großen Wanderung“ der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre aus den Südstaaten in die Metropolen des Nordens gezogen waren – in dem festen Glauben, nicht nur den erdrückenden Rassismus des Südens, sondern auch die Armut hinter sich gelassen zu haben.

Sie sahen sich bitter getäuscht. Nicht nur die Weißen, auch die „high yellows“, wie der eingesessene schwarze Mittelstand genannt wird, begrüßten sie als „cotton pickin' niggers“, die die Slums im Südosten und Südwesten bevölkerten und Washington durch steigende Kriminalitätsraten in Verruf brachten. Finanzmittel zur Bekämpfung der Armut waren faktisch nicht vorhanden.

Die Hauptstadt wurde in diesen Zeiten in quasikolonialer Manier vom District Committee des US- Repräsentantenhauses unter Vorsitz weißer Abgeordneter aus dem Süden verwaltet. Das Committee sparte drastisch an Sozialausgaben, senkte die Steuern, schob die verbleibenden Einnahmen aus dem Stadtsäckel weißen Geschäftsfreunden für Bauprojekte zu und schlug vor, Schwarze aus den Slums nach Afrika zu deportieren. 1952 schließlich schickte die Bundesregierung die Abrißbagger. Über 25.000 Menschen wurden in Sozialbaukomplexe, die sogenannten public housing projects, umgesiedelt – Teil einer landesweiten Kampagne zur „Erneuerung der Städte“.

Wie wohlwollend die Absichten der Stadtplaner und Politiker von damals waren, darüber scheiden sich heute die Geister. Henry Cisneros, US-Minister für Wohnungsbau und Stadtplanung der Clinton- Administration, analysiert die Motive seiner Vorgänger vor vierzig Jahren ganz nüchtern: „Die Strategie lautete: Pfercht sie alle zusammen, am besten auf der anderen Seite der Stadtautobahn – und dann sind wir sie los. Aber so funktioniert das eben nicht.“

So funktionierte es tatsächlich nicht. Aus den projects wurden staatlich finanzierte Sackgassen – Wohnblocks ohne wirtschaftliche und soziale Infrastruktur, ohne Aussicht auf Arbeitsplätze und damit ohne Aussicht auf den Auszug in bessere Viertel. Die ökonomische Konsequenz dieser Stadtplanung ist Armut und Drogenhandel – der einzige Wirtschaftszweig, der schnelles Geld verspricht. Die psychologische Konsequenz sind Selbsthaß und der street code – ein detailliert festgeschriebener Verhaltenskodex, wonach jede Form von Beleidigung oder Herabwürdigung geahndet werden muß – wenn nötig, mit Gewalt.

Isaac Fulwood ist als Kind nie in einem der projects gelandet. Aber die Folgen von Armut und Ghettoisierung hat er zusammen mit acht Geschwistern im Stadtteil Capitol Hill zur Genüge erlebt. Sein Vater, Isaac senior, brachte sich und die Familie mit Handwerksarbeiten durch; Mutter Betsy verkaufte Selbstgekochtes; Isaac junior lieferte im Alter von neun Jahren Lebensmittel für umliegende Einkaufsläden aus. Vier seiner Geschwister erhielten aufgrund körperlicher Krankheiten und Lernbehinderungen nie eine Schulbildung. Zwei Brüder starben als Alkoholiker. Der jüngste Sohn der Familie, Teddy, kam als Drogenabhängiger aus der Armee zurück. Um Träume zu verwirklichen, blieb nur noch Isaac übrig.

Der begann Ende der siebziger Jahre tatsächlich einen kometenhaften Aufstieg vom Captain bis zum stellvertretenden Polizeichef – ohne sich allerdings je von seiner Familienbiographie oder den Drogenproblemen seines Bruders zu distanzieren. Isaac Fulwood hielt Kontakt zu Teddy – egal, ob der sich gerade im Gefängnis oder in einem Entzugsprogramm befand. „Ich vergesse nie, wo ich herkomme“, sagt er. „Und ich halte mich auch nicht für besser als andere. Ich bin einfach jemand, auf den Gott gut aufgepaßt hat.“ Wie auch immer die göttliche Prioritätenliste in den achtziger Jahren ausgesehen haben mag, Isaac Fulwood und seine Stadt kamen nicht mehr darin vor.

An einem Herbsttag 1986, kurz vor Feierabend, rief ein Kollege aus dem Morddezernat an und bat Fulwood aufs Revier, um ihm „etwas zu zeigen“. Im Verhörzimmer saß ein 15jähriger Junge – verhaftet, weil er wenige Stunden zuvor einen Mann erschossen hatte. „Der Hurensohn hat's nicht anders verdient“, entgegnete er ungerührt auf die Frage nach einem Tatmotiv. Fulwood war sprachlos. „Ich hatte bis dahin wirklich einiges an Kaltblütigkeit erlebt, aber nicht bei 15jährigen.“

Von diesem Tag an war ihm klar, was er zuvor nur geahnt hatte. Ein neuer Drogenmarkt hatte eine neue Gewaltspirale ausgelöst. Verzeichnete die Polizei 1985 noch 148 Morde, so stieg die Zahl 1986 auf 197. 1987 wurden 228 Menschen ermordet, 1988 waren es 372. Washington hatte Detroit als Mordhauptstadt der Nation abgelöst. 98 Prozent der Opfer und 96 Prozent der Täter waren Schwarze. Über die Hälfte der Opfer waren jünger als 25 Jahre.

Mord wurde, nicht nur in Washington, zur häufigsten Todesursache junger afroamerikanischer Männer und Jugendlicher. Fulwood, meist mehr auf der Straße als in seinem Büro, machte eine ebenso verblüffende wie erschreckende Entdeckung: „Die Kids haben zwei Wertesysteme entwickelt – eines für die Straße und den Drogenmarkt, eines für zu Hause und für Ausflüge in andere Stadtviertel, wo sie sich anständig benehmen.“

In den Mord- und Drogendezernaten stapelten sich die Akten von Jugendlichen, manche erst 13 oder 14 Jahre alt, die andere wegen Drogenschulden ermordeten, auf Polizisten schossen, als Scharfschützen „Crackhäuser“, Abbruchhäuser, in denen gedealt und konsumiert wird, bewachten, in Strafaktionen Schuldnern Kniescheiben zertrümmerten – und danach seelenruhig nach Hause zum Abendessen gingen.

Crack war 1985 zum ersten Mal in Washington aufgetaucht. Bis dahin hatte in der Hauptstadt „nur“ ein florierender Kokainmarkt existiert, der im Unterschied zu New York, Detroit oder Los Angeles nicht von Gangs kontrolliert wurde. In Washington konnte jeder, der wollte, als Dealer auftreten und Kokain in kleineren Straßen mit präparierten Fluchtwegen oder in public housing projects anbieten; für die weißen wie schwarzen Konsumenten der gehobeneren Einkommensklassen gab es diskretere Verbindungen. Den nötigen Nachschub garantierten New Yorker Drogenkuriere sowie später die Crips in Los Angeles, die ihrerseits aus Kolumbien beliefert wurden.

Crack stellte den Markt auf den Kopf: Die Droge macht unmittelbar abhängig; sie ist bei einem Preis von fünf Dollar pro Röhrchen auch für Kinder und Jugendliche erschwinglich – und sie schuf einen gigantischen Straßenmarkt. „Es gab Straßenecken“, sagt Fulwood, „da standen an manchen Tagen dreihundert Leute herum und verdealten das Zeug.“ Damit nicht genug: Um Marktanteile begannen sich Gangs zu streiten. Nicht mit Revolvern und Pistolen, sondern mit automatischen Gewehren und Handfeuerwaffen.

Fulwood verstand die Verbreitung von Crack als eine Kriegserklärung an seine Stadt – und reagierte entsprechend. Unter seiner Federführung begann die „Operation Clean Sweep“. Innerhalb von zwei Jahren nahm die Polizei bei Razzien, Straßensperren und Hausdurchsuchungen über 40.000 Personen fest. Doch Washington konnte eine solche Law-and-order-Aktion nicht mehr finanzieren. Die Gefängnisse waren überfüllt, die Gerichte nahe am Kollaps, und die 19 Millionen Dollar für Überstunden der Polizei vergrößerten das chronische Defizit des Haushalts.

Isaac Fulwood sah nur noch einen Ausweg: In einem Kommentar in der Washington Post appellierte er im Januar 1989 an die BürgerInnen, sich gegen Dealer und Gangs zu wehren, Patrouillen zu organisieren, mit den Schulen und mit der Polizei zu kooperieren.

Als Fulwood sieben Monate später zum Polizeipräsidenten ernannt wurde, war er auf dem Höhepunkt seiner Karriere – doch der Zeitpunkt hätte schlimmer nicht sein können. Die Crack-Epidemie war schlimmer als je zuvor, die Mordrate wuchs ebenso wie die Zahl der Crackbabys, die die Abhängigkeit schon im Mutterleib zu spüren bekommen; die Zahl der inhaftierten schwarzen Jugendlichen begann die der Schulabsolventen zu übersteigen. Teddy Fulwood verfolgte die Vereidigungszeremonie seines Bruder vor dem Fernseher einer Haftanstalt. Sechs Monate später nahmen Beamte des FBI und der Washingtoner Polizei Fulwoods Freund und Mentor, den Washingtoner Bürgermeister Marion Barry, fest. Das Stadtoberhaupt war kokain- und crackabhängig.

Für viele Weiße war die Verhaftung Barrys krönendes Indiz ihrer „Beweiskette“ für die Regierungsunfähigkeit, Korrumpierbarkeit und den Sittenverfall des schwarzen politischen Establishments in der Hauptstadt. Für viele Schwarze war die Verhaftung Barrys krönendes Indiz für ihre These einer politischen Verschwörung gegen afroamerikanische PolitikerInnen. Barry, so ihr Glaube, sollte unter anderem als prominenter Sündenbock für George Bushs Krieg gegen die Drogen dienen. Barry war zweifellos korrumpierbar und am Ende seiner Bürgermeisterlaufbahn nicht nur durch seine Drogenabhängigkeit, sondern auch durch die Arroganz der Macht in seinem Urteilsvermögen stark beeinträchtigt. George Bush und seinem „Drogenzar“ William Bennet kam die Verhaftung zweifellos gelegen, um einen politisch unbequemen Bürgermeister einer politisch unbequemen, weil schwarzen Stadt öffentlich zu demontieren. Isaac Fulwood stand irgendwo dazwischen – angewidert vom Drogenkonsum seines Freundes und vom offensichtlich rassistischen Kalkül der Bundesbehörden.

Aber Fulwood war einer der ersten, die der schwarzen Community eine schonungslose Auseinandersetzung mit Black-on-Black Crime, der Gewalt- und Drogenkriminalität in ihren eigenen Vierteln, abverlangten. Wenn Jesse Jackson heute in schwarzen Kirchen und Schulen verkündet, daß er nachts vor Weißen auf der Straße weniger Angst hat als vor Schwarzen, dann, sagt Fulwood, „hat er völlig recht“. Er weiß, daß diese Debatte in die Hände von Rassisten und Rechten spielen wird. Er weiß auch, wie entwürdigend die Stereotypisierung Schwarzer als Krimineller ist. „Wenn ich in meiner Amtszeit in Zivil durch weiße Wohngegenden gelaufen bin, dann haben die Leute manchmal die Polizei gerufen – typische Reaktion beim Anblick eines fremden Schwarzen.“

Am 16. November 1992, fast auf den Tag genau 28 Jahre nach seinem ersten Streifengang, hängte er die Uniform an den Nagel. Unter Tränen erklärte er in seiner Abschiedsrede, er sei es leid, „alle fünf Minuten einen schwarzen Jugendlichen verhaften zu lassen“ und jedes Jahr neue Mordrekorde in die Statistiken einzutragen. „Die Polizei allein kann gegen Drogen und Gewalt nichts ausrichten.“ Ein paar Wochen zuvor hatte eine Polizeistreife in unmittelbarer Nähe seines Hauses ein Mordopfer entdeckt. „Ich bin nach dem Funkspruch sofort hingefahren und habe gebetet, daß es niemand aus meiner Familie ist.“ Als er ankam, war die Leiche zugedeckt. Nur ein weißer Turnschuh ragte hervor. „Schuhe, die mein Sohn auch trägt.“ Das Opfer war ein fünfzehnjähriger Junge. Die Täter hatten ihn wegen 200 Dollar Drogenschulden erschossen und die Leiche in Anacostia aus dem Auto geworfen. „Ich wußte an diesem Tag“, sagt Fulwood, „daß ich das nicht mehr aushalte.“

Doch die Tortur ging nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst weiter. Am 18. November 1992 wurde die Leiche von Teddy Fulwood, Isaacs Bruder, in Anacostia gefunden. Erschossen und ausgeraubt.

„Ich weiß, was Gewalt anrichten kann“, sagt Fulwood an diesem Montag morgen in der Aula der John Sousa Middle School, in der es mucksmäuschenstill ist. „Und ich weiß, daß wir gut überlegen müssen, bevor wir handeln.“ Er will kein Law-and-order-Geschrei. Er will keine Todesstrafe und keine neuen Gefängnisse, wie sie Bill Clinton und der Kongreß fordern. Und er will schon gar nicht die Militärs der National Guard in seiner Stadt sehen, nach der unlängst die Bürgermeisterin Sharon Pratt Kelly gerufen hat. Was er will, sind anständige Jobs, Freizeitprogramme für die Jugendlichen und „ein Ende unserer Liebesaffäre mit Schußwaffen. Über 200 Millionen Waffen in diesem Land. Der Rest der Welt muß sich fragen, ob wir eigentlich noch ganz bei Trost sind mit diesem Machoscheiß.“

All das erzählt er auf Konferenzen, in Schulen, vor der Presse, in Kirchen, vor Geschäftsleuten – überall dort, wo man ihm zuhört. Und es hören ihm eine Menge Leute zu. „Dies“, sagt er, „ist die Feuerprobe für die schwarze Community.“