Frau

Eine Erzählung aus Ägypten  ■ Von Mohamed Mustageb

Nur wenige Zeilen weiter wird sich eine schreckliche Geschichte ereignen. Wir werden den zweifelhaften L. loslassen, damit er an den Mauern des Hauses von Madame N. heraufklettern und sich, oben angekommen, auf ihr Bett werfen, sie mit seinen kräftigen Armen strangulieren und aus ihr einen leblosen Körper machen kann. Aus ihrer Nase wird Blut strömen und das ganze Zimmer überschwemmen.

Zunächst jedoch muß noch gesagt werden, daß N. eine schöne Frau war, die offensichtlich an dem Wunsch litt, sich besonders freizügig zu geben. Ein Junge erzählte über sie eine schockierende, geheimnisvolle Geschichte, die später durch die Leiche eines Kleiderhändlers bestätigt wurde. Außerdem hatte ihr ein Lastwagenfahrer nach dem Tod ihres Mannes einen Dolch fünfmal in die linke Schulter gestoßen. Kürzlich hatte man gehört, daß ein Schwindler einige Handvoll Gold aus ihrem Besitz gestohlen hatte. Nach so vielen Geschichten, die man sich über Madame N. erzählte, hatten wir alle das Gefühl, daß jeder von uns irgendeine Geschichte mit ihr erlebt hatte – daß jeder, wenn er nur wollte, das konnte.

Der Winter war sehr streng, und die Zimmer unserer niedrig gelegenen, engen Häuser klapperten und zitterten vor Kälte. Wenn der Tee auf dem offenen Feuer kochte und aus den rotglühenden Kohlen die Flammen schlugen, entfalteten sich unsere Erzählungen über Madame N. zu voller Blüte, und wenn der Rauch des Feuers durch Augen, Nasen, Kehlen und Körper strömte, wurden Reichtum, Haus und Körper der Madame N. für uns zum Rohstoff unserer Geschichten. Unser kältezitterndes, verräuchertes Glück war auf dem Höhepunkt, wenn jeder einzelne seine ganze Kunst aufbot, um Teile der Geschichte mit einem Geheimnis zu umgeben, so daß es uns allen Vergnügen machte, jede kleinste Kleinigkeit doch noch ans Licht zu bringen.

Der Krankenträger war am Markttag vor ihrem Haus gewesen. Was hatte er da gemacht? Der Erzähler hielt inne, schneuzte sich die Nase und flüsterte: „Wer weiß?“

Ein anderer greift nach der Geschichte und erklärt, er habe sie vor siebzehn Tagen höchstpersönlich im Krankenhaus gesehen. Was hatte sie da gemacht? Der Erzähler hält inne und flüstert: „Wer weiß?“ – und uns wird klar, hier und jetzt, daß wir alle N. einmal gesehen haben. Auf dem Markt, in der Jusuf-Kanal-Straße, vor der Schule, bei den Aquädukten, beim Zahnarzt, im Büro des staatlichen Steuereintreibers, neben dem Haus des Sicherheitsbeamten des Dorfes, in der Mühle, am Bahnhof, beim Kaufmann, auf dem Friedhof. Was machte sie da? Wer weiß.

„Hyäne“ war darauf spezialisiert, bei Tiergeburten zu helfen. Mit aufgekrempelten Ärmeln war er gerade dabei, aus dem tiefsten Innern einer Kuh die blutende Nachgeburt zu holen, als A'war sich zu der besorgten Frau meines Onkels hinüber beugte und ihr zuflüsterte: „In diesem Dorf gibt es keine Männer!“

Wir alle sahen auf, um den Grund dafür zu erblicken, weshalb unser Dorf angeblich keine Männer hatte. Und da sahen wir N. fröhlich und beschwingt am Ende der Straße vorbeispazieren; sie trug, wie immer, schwarze Kleidung, die in der morgendlichen Brise flatterte und die Strahlen der Sonne aufnahm; und sie trug ein Tuch um den Kopf, unter dem ihr schönes, lebendiges Gesicht besonders hervortrat.

Zehn Augenpaare folgten ihr, als sie über den Kanal weiterging. Gerade da mußte „Hyäne“ seinen blutigen Arm aus der Kuh ziehen und ausrufen: „Hat dieses Dorf keine wahren Männer?“ Schnell wurde aus dem Verein, der sich um die gebärende Kuh versammelt hatte, eine Bruderschaft, die sich schwor, „Hyänes“ Urteil, daß das Dorf keine Männer habe, zu widerlegen. Mit tiefer, männlicher Stimme rief A'war: „Ich zahle jedem fünf Pfund, der das Dorf von ... befreit“ – (und er sah mit verächtlichem Gesichtsausdruck in die Richtung von N.). Adil antwortete: „Ich zahle auch fünf“, woraufhin Fadil rief: „Und ich zahle zwei“, während Fagir mit seiner alten Stimme tönte: „Und ich zahle acht Pfund.“ Es wurden noch mehr Angebote gemacht, bis das Ganze damit endete, daß man „Hyäne“ tönen hörte: „Und ich werde mich in euer aller Namen mit L. unterhalten.“ Die Frau meines Onkel juchzte fast vor Vergnügen, als sie verkündete, sie würde die Hälfte ihrer Kaninchen schlachten und an dem Tag ein Festmahl mit Kaninchen und mulkhiyya in den Straßen servieren, an dem man ihr berichtete, daß mit Madame N. abgerechnet worden sei.

Wie jedes Dorf seinen Schmied hat, seinen Lehrer, seinen Chef der Nachtwächter, seinen Dieb, den Trommler zum Verjagen der Geister, eine Wahrsagerin und einen Holzhändler, den Imam und den Priester, Zugviehführer, Standesbeamte, die Tänzerin, Bordellbesitzer und den, der die Glieder einrenkt, der das Wasserrad repariert, die Hebamme, den Bürgermeister, Wasserverkäufer und den Friseur, so hat es auch einen, der mordet, wobei Dorf und Mörder ihren gegenseitigen Interessen dienen.

Der große L. war damals gerade der Stärkste in unserem Dorf und konnte sich auf fünf berühmte Unternehmungen berufen, die seinen Ruf begründeten: er hatte einen Händler aus dem Norden um die Ecke gebracht, der eine blinde Frau, wie sie sagte, um den Preis einer Kilah Getreide betrogen hatte; er hatte den Buchhalter einer Firma im Auftrag seines Vorgängers mit einem Speer getötet; er hatte einem Reiter die Kehle durchgeschnitten, der sich erlaubt hatte, durch die Gegend zu reiten, ohne die Leute zu grüßen; er hatte den Besitzer einer Backstube an den Füßen am Ofen aufgehängt, und weil keiner den Mut gehabt hatte, ihn abzuschneiden, war er am Ende umgekommen; und die fünfte Operation war die, bei der ein Fischer getötet wurde, indem man ihn und seine Familie in ihr Boot setzte, es dann anzündete und auf den Jusuf-Kanal hinausstieß.

Natürlich war es „Hyäne“, der sich mit L. verständigte. Als die beiden in unsere Straße kamen, zitterten wir alle vor Verwirrung, Aufregung und Unruhe. L. spazierte ganz ruhig daher, drehte dabei seinen Spazierstock, der wohlgesalbt war mit dem Ruhm all der Hälse, die er schon gebrochen hatte. Nachdem L. schließlich in die Nachbarstraße bog, stieg ein Gefühl des Stolzes in uns auf. Und kaum war er außer Sicht, wußten wir die Antwort auf unsere Frage: Das Dorf ist voller Männer. Als er an uns vorbeiging, hatte L. mit leiser Stimme zu uns gesagt: „Friede sei mit euch.“

Wir warteten auf die Zeit, zu der in unserem Dorf Morde stattfinden konnten: am frühen Morgen in der ersten Dämmerung oder nach dem Abendgebet. Wir konnten uns sogar über den Lohn unterhalten, den der Mörder wohl kriegen und die Methode, mit der er vorgehen würde: würde er sein Opfer mit dem Messer zur Strecke bringen oder mit Feuer, mit Gift oder durch Erwürgen, mit bloßen Händen oder mit einem Hanfseil, oder würde er es mit dem eigenen Bettzeug ersticken. Nach einer ermüdenden Woche voller Spekulationen kamen wir zu dem Ergebnis, daß L. die verfluchte N. gewiß mit seinen eigenen Händen erwürgen würde, und zwar in der Dämmerung des Tages nach dem Markt.

Jetzt war es später Nachmittag, eine Tageszeit, zu der keiner von uns die Neigung verspürt, irgend jemanden umzubringen – wenn die Sonne sich dem Ende ihrer Bahn nähert, gelb, alt und verzagt, und ihre Strahlen die melancholischen Dächer der Häuser streicheln.

Da brach der Horizont des Dorfes auf, und unsere Augen öffneten sich verwirrt, und unsere Blicke blieben an den Abfallhaufen der schäbigen Gebäude hängen. Das ganze Universum hallte wieder von einem entsetzlichen Schrei als Madame N.s Fenster aufsprang und Mister L. hindurchgeworfen wurde und auf die Straße fiel, einen zweiten, langgezogenen, entsetzlichen Schrei hinter sich herziehend.

Um den Körper von L., der völlig verkrümmt dalag und zitterte, als er seinen letzten Seufzer ausstieß, sammelten sich die Menschen. Keiner von uns wagte, nach oben zu blicken, wo Madame N. auf dem Dach ihres Hauses stand, herausfordernd über uns thronte – splitternackt – und mit einem verächtlichen Lächeln auf uns niedersah.

Mohamed Mustageb wurde 1938 in Dairout geboren. Er hat eine Novelle und zwei Bände mit Kurzgeschichten geschrieben; er arbeitet jetzt an der Akademie für Arabische Sprache.