Wiederherstellung der Vergangenheit

Die Kultur Ägyptens stirbt. Nationalistische Islamisten schwingen antiwestliche Parolen, das Land verabschiedet sich von der Aufklärung  ■ Von Karim Alrawi

Wie lebt man in einer Gesellschaft, deren Kultur im Sterben liegt? Das ist nicht so leicht zu sagen. Denn es ist nicht nur eine Frage von verfolgten Schriftstellern und Wissenschaftlern, verschärften Restriktionen in Verlagen oder zunehmender Zensur in den Theatern und Kinos des Landes. Es ist auch mehr als nur ein Bildungsmangel, wie ihn Nagib Machfus auf diesen Seiten beklagt, oder das allumfassende Klima der Zensur, das Gamal el-Ghitani beschreibt.

Es ist vielmehr, als sähe man zu, wie ein großes schwerfälliges Tier langsam im Treibsand untergeht. Es ist das Wissen darum, daß das, was von älteren Generationen erkämpft wurde, jetzt wahrscheinlich für immer verlorengeht.

In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ging ein junger Mann von Al-Azhar, der islamischen Universität Ägyptens, auf eine Reise nach Frankreich. Diese Reise sollte sein Leben und die Kultur Ägyptens verändern. Der Name des jungen Mannes war Rifaa el-Tahtawi, und er verdiente sich sein Geld als muslimischer Kleriker, der junge Gelehrte auf ihren Reisen in dieses Land der Ungläubigen begleitete und aufpaßte, daß sie ihrem islamischen Glauben nicht untreu wurden.

Aber Rifaa el-Tahtawi beschränkte sich nicht auf Religion, sondern versuchte so viel wie möglich über die Pariser zu erfahren. Später sollte er einen der schönsten Berichte schreiben, die jemals aus arabischer Perspektive über Europa entstanden sind. Das Buch „Tabriez al-Abareez“ (deutsch: „Ein Muslim entdeckt Europa“) muß vielen seiner Leser zu Hause höchst phantastisch vorgekommen sein – so phantastisch wie Marco Polos Erzählungen aus den Ländern des Großen Khan.

Nach seiner Rückkehr machte sich Rifaa el-Tahtawi in Ägypten mit großer Energie an die Aufgabe, das Beste dessen zu übersetzen, was die Kultur Europas seiner Meinung nach zu bieten hatte. Und er setzte seine Arbeit fort – trotz Spott und vieler Bestrafungsversuche durch diejenigen, die befürchteten, daß die neuen Ideen die soziale Ordnung bedrohten.

Die Bibliothek, die er hinterließ, wurde einem der wichtigsten Männer der ägyptischen Aufklärung zu einem zweiten Zuhause. Muhamad Abdu war nicht nur ein großer Islamist, geehrt mit dem selten vergebenen Titel des „größten Imam seiner Zeit“, sondern er war auch ein Sozialreformer, der leidenschaftlich für ein Parlament und eine liberale und demokratische Verfassung kämpfte.

Zwanzig Jahre nach seinem Tod spaltete sich die ägyptische Aufklärung. Den säkularen, linken Flügel führte Saad Zaghloul an, Rasheed Rida den immer mehr nach rechts, in Richtung eines autoritären Fundamentalismus abdriftenden Zweig. Beide waren Schüler Mohamad Abdus. Im Laufe der Dreißiger und Vierziger erreichte die Aufklärung ihren Höhepunkt und legte die Fundamente für Nassers Ära sozialer Reformen in den Fünfzigern und Sechzigern. Mit dem Beginn der Siebziger jedoch holte der militant islamistische Flügel wieder auf – und heute hat er schon fast alles andere hinweggefegt.

Die Frage „Bist du oder warst du jemals Atheist?“ steht heute implizit hinter jedem Angriff auf SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen in Ägypten. Dieser Vorwurf wird bestimmten KünstlerInnen von jedem Straßenprediger gemacht und auf zig verschiedenen Kassetten, die vor den Moscheen in ganz Ägypten verkauft werden, hundert- und tausendfach wiederholt. Diese Kassetten haben Titel wie „Der Dreck der Künstler“ oder „Kunst ist Dreck“. SchriftstellerInnen und KünstlerInnen werden nicht selten namentlich genannt und öffentlich als „AtheistInnen und Abtrünnige“ verdammt. Nach islamischem Gesetz kann beides mit dem Tode bestraft werden.

Aber es sind natürlich nicht nur die Extremisten der Straße, die zur Bestrafung der KünstlerInnen aufrufen. Die offizielle und halboffizielle Presse verhält sich genauso feindselig. Ihren orchestrierten Schmutzkampagnen fielen schon viele zum Opfer, ohne je die Möglichkeit zu einer Erwiderung oder Richtigstellung zu haben.

Angriffe auf den Filmemacher Yousef Chahin enthielten auch Hinweise auf seine französische Erziehung. Xenophobie ist unverzichtbarer Teil des politischen Programms der „Muslimischen Bruderschaft“, den Erben von Rasheed Ridas Fundamentalismus. Dabei wurden viele dieser neuen islamistischen Militanten der Mittelklasse selbst „ausländisch“ erzogen und führen Geschäfte oder lehren an Universitäten. Viele bekannten sich, als sich das noch – buchstäblich – bezahlt machte, zu sozialistischen Ideen. Am Toleranzgebot des religiösen Islam haben sie kein Interesse, sondern beuten seinen breiten Konsenswert nur für ihre eigenen politischen Zwecke aus. Zur Rekrutierung arabischer Nationalisten gebraucht die Brüderschaft anti- westliche Parolen – was seit dem Golfkrieg und der Zerstörung des Irak besonders erfolgreich ist.

Dabei kann es dann auch nicht erstaunen, daß Rifaa el-Tahtawi der „Muslimischen Bruderschaft“ ein Dorn im Auge ist. In ihren Publikationen bezeichnen sie ihn als „Verräter und Verführer“. In einer Veröffentlichung fordern sie eine Rückkehr Ägyptens zu vor-napoleonischen Zuständen. Nach Angaben des russischen Generalkonsulats war Ägypten damals ein Land, in dem Seuchen grassierten und weniger als 300 Männer lesen und schreiben konnten.

Ihr Kulturprogramm ist damit ein kaum verhüllter Versuch, Zukunft in Vergangenheit zu verwandeln und 150 Jahre Aufklärung zurückzuschrauben – bis hin zum Massenanalphabetismus. Im Sudan, in dem die Muslimbrüder an der Macht sind, wurde kürzlich bekanntgegeben, daß jeder, der den Koran zitieren kann, von Arbeitgebern wie jemand mit Universitätsdiplom zu behandeln ist.

In Verfolgung ihres Ideals hat die fundamentalistische Lobby heftige Kampagnen gegen einzelne in Gang gesetzt, die als leichte Opfer gelten und von denen man glaubt, daß sie einfach einzuschüchtern sind. Das letzte Opfer ist Dr. Abu Zaid, den sie von seinem Universitätsposten zu verjagen versuchten. Ein weiterer Fall war der des Romanciers Ihsan Abdul Quodus, der noch auf seinem Sterbebett von der islamischen Presse als Abtrünniger denunziert wurde. Den Angriff auf ihn führte die in London ansässige und von Saudis finanzierte Zeitung al-Muslimoun, in der ein Anklagepapier veröffentlicht wurde, das Abdul Quodus als „Kandidaten für die Hölle“ auswies.

Der Kampf der militanten Islamisten ist ein Kulturkampf. Da der Islam die Religion des Buches ist, ist der Koran das wahre Wort Gottes in der arabischen Sprache. Arabisch ist daher die Sprache des alltäglichen Gesprächs und zugleich eine heilige Sprache. Bei einer solchen Doppelfunktion bedeutet jedes Wort ein Risiko, sich womöglich auf das Feld des Heiligen begeben zu haben. Als Schriftsteller muß man jedoch Texte schreiben können, für die man nicht Wort für Wort den Titel „einzige Wahrheit des einzigen heiligen Wortes“ beanspruchen kann. So kommt es, daß nicht nur die Worte der SchriftstellerInnen sondern die SchriftstellerInnen selbst zu Opfern werden.

Nicht nur militante Islamisten haben SchriftstellerInnen und KünstlerInnen zu Freiwild ge

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macht. Auch Parlamentsabgeordnete versuchen ihr Glück. Sie wissen genau, wie sie gute Schlagzeilen bekommen können, denn nichts garantiert ihnen heutzutage mit größerer Sicherheit eine Erwähnung in der Presse als eine kräftige öffentliche Attacke auf einen Schriftsteller oder Schauspieler. Derartige Angriffe erfolgen mittlerweile mit einer Regelmäßigkeit, daß man glauben könnte, zwischen Regierung und militanter Opposition gäbe es kaum noch einen großen Unterschied.

Die Reaktion der Regierung auf die zunehmenden Angriffe gegen die KünstlerInnen des Landes besteht in einer Verschärfung der Zensur und dem Verbot ihrer Werke. Die Staatssicherheit beherrscht dabei die verschiedenen Zensurkörperschaften durch den von ihnen nominierten Direktor der Zensur, Hamdi Sorour. Die „höheren Interessen des Staates“ sind die jüngste Entschuldigung dafür, Theaterstücke und Filmskripte einzustampfen. Inzwischen müssen selbst Popsongs für eine Aufnahmeerlaubnis vorgelegt werden.

Regierung und Muslimbrüder bemühen sich gleichermaßen eifrig um die Unterstützung von Al-Azhar, der orthodox-islamischen Universität von hohem Prestige, die seit langem von Muslimbrüdern durchsetzt ist und von ihnen zur Rekrutierung von Personal für internationale Aktivitäten genutzt wird. Die Regierung braucht Al- Azhar, um sich mit einem Hauch islamischer Legitimation zu umgeben. Als der Regierung ideologisch noch am arabischen Nationalismus und Sozialismus gelegen war, hatte sie dieses Problem noch nicht. Der Separatfrieden mit Israel hat jedoch die Glaubwürdigkeit ihres arabischen Nationalismus unterhöhlt, und die Privatisierung der großen Industrien hat dem arabischen Sozialismus in Ägypten jede Kredibilität genommen. Zur Wiedererlangung ihrer Legitimität hätte die Regierung zwei Möglichkeiten. Die eine wäre eine demokratische Reform; als sich Mubarak im Oktober letzten Jahres jedoch als einziger Kandidat zur Präsidentschaftswahl stellte, war klar, daß die Regierung diesen Weg nicht einzuschlagen gedachte.

Die zweite Alternative bestünde darin, die islamische Respektabilität aufzupolieren. Im Kampf mit den Muslimbrüdern geht es nicht um Ideologie, sondern um Personen. Die an der Macht sind, wollen zwar ihre Plätze nicht für andere räumen – aber sie machen Anleihen bei den Muslimbrüdern, um vor dem ägyptischen Volk nicht nackt dazustehen. In diesem Machtkampf kann man am ehesten auf SchriftstellerInnen und KünstlerInnen verzichten, die von den Muslimbrüdern als „Freidenker“ so lautstark verflucht werden. Für derlei haben ja die meisten undemokratischen Regime nicht viel übrig.

Eine Geschichte zu schreiben oder ein Theaterstück aufzuführen mit tragfähigen Handlungen und Charakteren – nicht nur eine Aneinanderreihung von Sketchen, die durch Songs zusammengehalten werden –, ist inzwischen ein heroischer Akt des Widerstands geworden. Viele SchriftstellerInnen sind immer mehr von der Unvermeidlichkeit eines islamistischen Regimes in Ägypten überzeugt – was die wachsende Zahl von Biographien frommer Muslime der Geschichte und das immer größer werdende Interesse an der Aufarbeitung von Volksmärchen erklärt.

Die Parteiorganisation der Muslimbrüderschaft ist in den dreißiger Jahren nach dem Modell der italienischen Faschisten entstanden. Sie gingen damals sogar so weit, in schwarzen Hemden durch die Straßen von Kairo zu marschieren. Wie der Aufstieg des Faschismus in Europa ein mächtiges Interesse an Volk und Folklore auslöste, so gibt es auch jetzt in Ägypten eine Verschiebung in Kunst und Literatur hin zum Folkloristischen. Gerechtfertigt wird diese Tendenz als Rückkehr zu den kulturellen Wurzeln – genauso wie sich der islamische Fundamentalismus als Rückkehr zu den religiösen Wurzeln ausgeben konnte.

Ägypten wendet sich von der Zukunft ab, um die Vergangenheit als Gegenwart wiederherzustellen. Bald wird für uns alle nichts anderes mehr existieren als das Recht eines 1.500 Jahre alten Buches. Für die Kultur ist das, als ob die Zeit erst stillsteht und dann rückwärts zu laufen beginnt.

Der Islam, in der Praxis einst ein toleranter Glaube, ist zum Kult eines Buches verkommen. Die Stellung des Buchstabens über dem Geist hat Ausmaße der Götzenanbetung erreicht. Kein anderer Text kann sich mit dem von Gott geschriebenen Koran vergleichen. Seine Worte, seine Grammatik, seine stilistische Qualität sind von Gott auserwählt. Er ist der allerhöchste, der letzte Text, der keine Konkurrenten verträgt. Implizit ist, daß alle anderen Texte auf die eine oder andere Weise nur Kommentare sind, Manifestation seines Geheimnisses – oder sie sind Hybris.

Das ist nicht etwa ausschließlich Auffassung der religiösen Militanten, sondern selbst der durchschnittlichsten Prediger, zum Beispiel des enorm populären Scheiks Shaarawi, der schon auf mehr arabischen Fernsehkanälen zu bestaunen war als „Star Trek“. Und es scheint auch die Auffassung der Zensurbehörde zu sein.

Mit jedem neuen Angriff wird das Reich der Kreativität kleiner. Eines Tages werden seine Grenzen zu einer einzigen Linie verschmelzen, dann wird die Austreibung des freien Geistes vollbracht sein. Das wird der Tag sein, an dem die Zeit endgültig in die andere Richtung zu laufen beginnt: Analphabetismus und Unwissenheit werden wieder zur Norm werden. Es wird sein, als ob es Rifaa el-Tahtawi und die Generationen der Aufklärung nie gegeben hat.

Karim Alrawi ist ägyptischer Schriftsteller in Kairo und Stellvertretender Generalsekretär der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte.

Rifaa el-Tahtawi: „Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im 19. Jahrhundert nach Paris“. C.H. Beck Verlag. Zur Zeit billig bei 2001.