Naturalmente nous choissisons

Erstmals dürfen bei den Europawahlen auch in Deutschland lebende nichtdeutsche EU-Bürger ihre Stimme abgeben / Doch im multikulturellen Frankfurt interessieren sich nur die wenigsten dafür  ■ Von Heide Platen

Frankfurt-Bornheim, ein Stadtteil mit multikulturellem Charakter. Hier wohnen zwischen den alteingesessenen RentnerInnen und Hausfrauen die Lehrer, Intellektuellen, der Mittelstand. Die Restaurants und Kneipen rund um die Bergerstraße weisen auf ein vergnügungssüchtiges Völkchen hin. Wein und Oliven, Schinken und Nudeln gibt es beim Italiener, Kebab am Schnellimbiß, Haifischflossen beim Chinesen an der Ecke, superscharf Gewürztes bei der Thailänderin.

Das könnte so schön sein. Ist es aber nicht, denn eine Befragung derjenigen der hier heimisch gewordenen BornheimerInnen aus Europa, die am 12. Juni zum erstenmal in Deutschland zur Europawahl gehen könnten, gerät zum Diskussionsmarathon.

Der Grieche: „Europa hackt nur auf uns rum“

Der griechische Wirt an der Ecke könnte, samt Wirtin und zwei wahlberechtigten Kindern, durchaus zur Urne schreiten, wenn er nur wollte. Er könnte sogar, wie auch die Italiener und Franzosen, die KandidatInnen seines eigenen Landes wählen. Ein Antrag bei seinem Konsulat und ein Gang in das dort eingerichtete Wahlbüro hätten das möglich gemacht. Nur, er will einfach nicht. Und er ist wütend: „Warum soll ich denn?“ Europa geht ihm derzeit mächtig gegen die Hutschnur. Seine Nerven liegen, scheint es, bei diesem Thema auf der Haut. Der wunde Punkt heißt „Mazedonien“: „Europa hackt nur auf uns rum. Geh mir bloß weg mit Europa!“ Dem eigentlich freundlichen und liberalen Mann schwellen die Stirnadern. Und seine Frau steht dem nicht nach: „5.000 Jahre war Mazedonien griechisch!“ Da hilft nach einer unbedachten Bemerkung über die Absurdität eines Streits um Namensgleichheiten nur die schnelle Deeskalation. Nein, stellt der streitbare Grieche dann noch fest, die Kandidaten auf der Europa-Liste seines Heimatlandes wird er auch nicht wählen: „Das sind sowieso alles Gauner, die nur verdienen wollen und nichts tun.“ Politik, meint er, „das ist sowieso nur immer gegen die kleinen Leute.“ Daß er noch vor einem Jahr unentwegt räsonierte, weil er als „Bürger zweiter Klasse“ nicht zur Wahl gehen könne, ist ihm kurzfristig entfallen.

Die Griechin: „Ihr mit euerm Goethe“

Antonia, ebenfalls Griechin, Abiturientin, 18 Jahre und in Frankfurt geboren, ist gerade in ihrer emanzipatorischen Phase. Sie besucht einen Selbstverteidigungskurs und wird mit jedem Anschlag auf Ausländer in Deutschland griechischer.

Nein, die deutsche Staatsbürgerschaft will sie nicht mehr haben, nicht mal als doppelte und nicht mal geschenkt. Hinter jedem Satz wittert sie preußische Rechthaberei und Belehrung und bricht lange Debatten darüber vom Zaum, daß sie aus einem Kulturvolk stammt, das schon Thermalbäder kannte, als die „Neandertaler hier noch auf den Bäumen saßen“: „Ihr mit euerm Goethe nennt das auch noch Klassik.“ Die griechische Tragödin entschwindet mit starkem Abgang.

Die Spanierin: „Wir müssen jetzt wählen“

Marias Eltern sind aus Spanien eingewandert. Sie ist 27 Jahre alt, in Deutschland aufgewachsen und studiert an der Frankfurter Uni. Sie ist im Wählerregister eingetragen. Die Formalitäten, der Gang zum Wahlamt und das Ausfüllen des Fragebogens nebst eidesstattlicher Versicherung seien wirklich „sehr leicht“ gewesen. Sie hat auch ihre Eltern überredet, wählen zu gehen: „Wenn wir das Ausländerwahlrecht wirklich wollen, dann müssen wir es jetzt auch wahrnehmen.“ Natürlich werde sie keine Partei ankreuzen, die sich dagegen ausgesprochen hat. Damit geht sie weiter als der Ausländerbeirat, der in einer Presseerklärung gebeten hatte, nur „demokratische Parteien“ zu wählen. Ihr Demokratieverständnis schließe, doziert sie so ernst und streng wie im Staatskundeseminar, die Sorge ein, „daß alle Schaden nehmen, wenn in einem Gemeinwesen fast ein Viertel der darin lebenden Bevölkerung von der politischen Willensbildung ausgeschlossen ist“.

Laut ersten Umfragen des Landeswahlamtes ist Maria eine Ausnahme. Es werden nur sehr wenige der in Hessen lebenden, wahlberechtigten 170.000 EG-Ausländer zur Wahl gehen. In fünf ausgewählten kreisfreien Städten in Hessen könnten 72.826 „Unionsbürger“ ihre Stimme abgeben, es hatten sich aber bis zum Ablauf der Anmeldefrist am 9. Mai, 16 Uhr, nur 4.775, also 6,6 Prozent eingetragen. Persönlich und in ihrer Landessprache sind sie nur in Frankfurt über diese Möglichkeit informiert worden, in den anderen vier erfaßten Orten erhielten sie deutsche Benachrichtigungen und/ oder Faltblätter. Schlußlicht ist Offenbach mit 3,5, Spitzenreiter Kelsterbach mit 14,4 Prozent.

Den Grünen im benachbarten Bischofsheim, die sich mehr Mühe gaben, ist die Enttäuschung anzumerken. Sie setzten eine aufwendige Informationskampagne durch. Das Fazit ist dürftig. Von den rund 1.000 Benachrichtigten meldeten sich gerade 24 an. Und die seien entweder sowieso im Ausländerbeirat oder alteingesessene Geschäftsleute. Bundesweit liegen die Zahlen bei den 1,3 Millionen EG-Bürgern schätzungsweise bei etwa vier Prozent. Zum Teil belieferten auch die Botschaften ihre Landsleute mit übersetzten Formularen. Der Verwaltungsaufwand ist enorm, denn die ausländischen Konsulate müssen sich mit den deutschen Wahlämtern abstimmen, um „Doppelwahlen“ zu vermeiden. Wenn sich also ein Unionsbürger für die Liste der deutschen Parteien entscheidet, geht, so Sachbearbeiter Bartosch, „die Drittausfertigung des Wahlantrags an das zuständige Konsulat“.

Der Italiener: „Überall dasselbe! Scheiß Europa!“

Cuma Yagmur vom „Einwanderer-Treff“ bot in einer Presseerklärung das achtsprachige Faltblatt ebenfalls an. Die Resonanz war gering. Am höchsten, vermutet er, werde die Wahlbeteiligung wohl bei den Italienern sein, die auch den größten Ausländeranteil in der Main-Metropole ausmachen. Das liege möglicherweise daran, vermutet der Kioskbesitzer Luigi, „daß wir auch von hier aus den Faschisten etwas entgegensetzen wollen“. Er wird, sonst kein eifriger Wahlgänger, diesmal bewußt links wählen. Und ereifert sich sofort über die gesamteuropäische Situation: „Italien, Deutschland, Frankreich, die Briten, Scheiß Europa!“ Nirgends werde wirklich etwas gegen die Faschisten getan. Ob es nun italienischer Opportunismus, deutscher Rassismus, französischer Nationalismus oder britische Überheblichkeit sei: „Überall dasselbe!“

Der andere Italiener: „Aus Solidarität nicht wählen“

Pizzabäcker Tonio sagt, er gehe „aus Solidarität“ nicht wählen. In der Küche seines Restaurants arbeiten Pakistani und Türken, die hier auch schon jahrzehntelang leben: „Die dürfen ja auch nicht!“ Und schon hebt auch er zu einer weltpolitischen Tirade an. Fast ein Viertel der bundesdeutschen Haushalte seien mittlerweile international. Das finde sich in der Gesellschaft „aber nirgends, wirklich nirgends, niente!“ wieder. Banken machen Schwierigkeiten bei Kontoeröffnungen, die Post verlange Vorausgebühren für Telefonanschlüsse, die Autoversicherungen schikanieren auch „Unionsbürger“, die hier „zwanzig Jahre lang unfallfrei gefahren sind“, mit erhöhten Gebühren. Die Liste wird immer länger: ausländische Interessen und Bedürfnisse finden weder in Meinungsumfragen noch in der Werbung ihren Niederschlag. Es folgen Beispiele von Benachteiligung bei Lehrstellen- und Wohnungssuche, Geschichten über gemeine Nachbarn und Alltagswidrigkeiten.

Das sei, moniert Irene Katheeb vom Amt für multikulturelle Angelegenheiten etwas lehrerinnenhaft, „die falsche Einstellung“. Sie kämpft seit vielen Jahren für das Ausländerwahlrecht. Die geringe Wahlbeteiligung macht ihr Probleme: „Ich schäme mich richtig ein bißchen.“ Sie sieht eine wesentliche Ursache, wie auch Cuma Yagmur, darin, daß „das alles viel zu kurzfristig und viel zuwenig bekannt war“. Und sie lobt das Frankfurter Wahlamt, daß sich sehr viel Mühe mit der Vorbereitung gegeben habe, dem aber wegen der zögerlichen Bonner Politik „die Hände gebunden waren“.

Die Italienerin: „Cohn-Bendit wählen“

Daß einige der Befragten die Europawahl mit der zum Ausländerbeirat, „die doch gar nichts bringt“, verwechselten, gibt ihr recht. Am Gemüsestand auf dem Bornheimer Markt herrscht bei dem gemischten Verkäuferteam Verunsicherung vor. Niemand habe ihnen was gesagt, meinen sie. Sie wüßten auch gar nicht, wo sie hingehen müßten. Das sei „alles viel zu umständlich“. Tatjana aus Italien hat sich ihre eigene Entscheidung auch nicht leicht gemacht. Sie kam von einem Besuch aus Italien zurück, bei dem sie entsetzt festgestellt hatte, daß „auch ganz alte Freunde auf einmal Berlusconi gewählt haben“. Sie ließ sich beim deutschen Wahlamt registrieren: „Dann kann ich hier wenigstens Cohn-Bendit wählen.“

Der Franzose: „Überhaupt kein Grund zum Wählen“

Währenddessen gab das benachbarte Thüringen die vorläufig hochgerechneten Zahlen bekannt. Landeswahlleiter Ekkehard Peters stellte fest: „Es werden wohl sehr wenige sein.“ Er rechnet mit ungefähr 600 in Thüringen lebenden EU-Bürgern. Ein letzter Versuch am Abend in der Szene-Kneipe beschwört wiederum internationale Konflikte herauf. Diesmal streiten sich ein Franzose und eine Portugiesin in schönstem Hessisch. Die Portugiesin ist überzeugte Europäerin und wird „selbstverständlisch wähle gehe“, der Franzose kann Europa nicht ausstehen. Erstens hätten die im Europaparlament, Gott sei Dank, bisher nicht viel zu sagen, zweitens würden, wenn das anders sei, doch nur „die Deutschen viel zuviel zu sagen haben“, und drittens sei er sowieso Anarchist und gehe nie wählen. Womit die Debatte unrückholbar abschweift zu Sinn und Unsinn des Parlamentarismus an sich.

* Natürlich (spanisch) wählen wir (französisch) Europa (griechisch)