Bewegte Behausungen

Der französische Ethnologe Marc Augé über Nicht-Orte: Transiträume, die wir nur durchqueren  ■ Von Valentin Groebner

Marc Augé, französischer Ethnologieprofessor und deutschen Lesern durch „Ein Ethnologe in der Metro“ bekannt, begibt sich auf die Reise. Sie führt ihn diesmal nicht zu fernen Wilden (obwohl von ihnen die Rede ist) und nicht in den Pariser Untergrund, sondern zu den, wie es im Titel heißt, „Nicht-Orten“. Was soll das sein?

Ethnologen haben eine besondere Beziehung zu Orten, schreibt Augé. Sie fassen das wilde Anderswo, das sie erforschen, gerne als abgeschlossen und homogen auf. Deshalb ihre Begeisterung für traditionelle Orte, die durch ihren Namen und die damit evozierten Mythen und Geschichten ihre Traditionen an ihre Bewohner heften. Und weil die Kulturwissenschaftler dazu neigen, sich selber als die subtilsten und gelehrtesten aller Eingeborenen zu verstehen (wie der Autor boshaft bemerkt), könnte hinter ihrer Emphase für den umgrenzten traditionellen Ort nichts anderes stecken als ihre eigene Sehnsucht nach der Insel – wie sie auch gerne aus den Orten, die sie studieren, Inseln machen.

Die Plätze, die Augé diesmal beschäftigen, sind das genaue Gegenteil. Sie sind keine historisch lokalisierten Inseln, sondern Transiträume: Flughäfen, Wartesäle, Hochgeschwindigkeitszüge, Autobahnraststätten. Sie haben keine Bewohner, sondern nur Benutzer. Wir verbringen zunehmend Zeit an Plätzen, so Augé, die keine Orte im alten Sinn sind, sondern Durchgangsstationen. Sie können luxuriöser oder widerwärtiger Natur sein (Einkaufszentren, Feriendörfer, Wohnheime). Die Verkehrsmittel, die sie immer enger miteinander verbinden, werden dabei ebenfalls zu Verweilräumen, beweglichen Behausungen, von den stationären kaum mehr zu unterscheiden. An all diesen non-milieux sitzen wir herum, entrückt und etwas gelangweilt, kommunizieren mit Maschinen, indem wir Kreditkarten in Automaten, Tickets in Entwerter stopfen, essen etwas aus der Hand und warten – auf die Abfahrt oder auf die Ankunft.

Der Raum, den man dazwischen durchquert, bleibt unbetretbar, eine Art Leere. Freilich wird ständig auf ihn verwiesen wie auf den Tafeln am Rande der Autobahnen, die einem den Namen und das zugehörige Piktogramm für die Landschaft liefern, die man gerade durchfährt. Man kommt da aber nicht hin, sondern nur vorbei. Man landet ja eben nicht in den Hügeln der Provence (oder der Rhön), sondern in der nächsten Autobahnraststätte (oder Ankunftshalle). Eine Welt, so Augé, die solcherart der einsamen Individualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet sei, biete sich dem Kulturwissenschaftler als ideales neues Untersuchungsobjekt – Nicht- Orte, in denen wir uns ständig bewegen, die zu erkunden wir aber noch nicht gelernt hätten.

Das alles ist zusammen mit ein paar Schlenkern zum Verhältnis von Ethnologie und Geschichte, Kultur und Text, Clifford Geertz und Marcel Proust elegant in ein kleines Buch verpackt und will nebenbei noch eine Theorie der „Übermoderne“ liefern, die für unsere Verbannung in die Nicht- Orte verantwortlich sei: Überfülle der Ereignisse, rasend beschleunigte Bewegung und Individualisierung der Referenzen. Dem Autor gelingen dabei nette Sottisen über Kulturwissenschaften, Alltag und akademische „Ich sehe was, was du nicht siehst“-Spiele, aber seine Übermoderne fällt lauwarm kulturpessimistisch und reichlich unscharf aus.

Was schade ist. Denn wenn man Reisen als Bewegung der Bilder auffaßt – pathetischer Bilder, wie Augé zu Recht bemerkt, die beim Betrachter eine Pose erzeugen (Reisende kennen das) –, dann muß man sich auch damit auseinandersetzen, daß die Bilder, die Nicht-Orte und ihre Benutzer von einer ungeheuren Trägheit sind, von mehr oder weniger freundlicher Indolenz. Die Analysen, die man über sie anstellt, sind ihnen ganz egal. Sie machen einfach weiter. Reisebüroprospekte führen sich wie Talkshows oder Werbung natürlich als Zeichensysteme, Kosmologien, metaphorische Totalitäten auf und bereiten damit ihren Erforschern viel Freude. Aber funktionieren sie auch so? Der Ethnologe (oder der Medienwissenschaftler) wird leicht selber zum signifyin' monkey, der auf eine bestimmte Szene zeigt und begeistert auf und ab springt und ruft, das sei der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen – während die Autos weiter fahren, die Sender weiter senden (und Berlusconi die Wahlen gewinnt).

Und von wegen „Einsamkeit als Erfahrung der Bewegung“, wie im Titel (romantisch und etwas wehleidig) angesprochen! Der Pariser Universitätsprofessor Augé reist offensichtlich erster Klasse. In Wirklichkeit ist man an Nicht-Orten nie allein. Hier herrscht keine Einsamkeit, sondern Gedränge. Keine melancholische Introspektion, sondern der Schlachtruf „Kaffee, Bier, heiße Würstchen“. Keine Anonymität, sondern lauthals geführte Gespräche von Sitznachbarn, denen man nie zuhören wollte und doch zuhören muß, von Berlin Zoo bis Mannheim Hauptbahnhof alle Details der Scheidung von Tante Sophie, ohne Erbarmen. Die angeblich ständig zunehmende Beschleunigung der Übermoderne schließlich ist einfach ein Irrtum. Man merkt nichts davon. Vielmehr wird einem mit Anzeigetafeln („Stau!“), Wartenummern und Verspätungsmeldungen dauernd mit etwas viel Schlimmerem gedroht, nämlich mit dem Nichts- geht-mehr, dem Festsitzen, dem endgültigen Stillstand.

Aber auch dann spenden die Nicht-Orte Trost. In sämtlichen ICE-Waggons der Deutschen Bahn AG hält von Bremen bis Basel auf einer großen beleuchteten Reklamefläche eine freundliche Dame dem Passagier ein Paket Dulcolax entgegen. Gegen Verstopfung kann man etwas tun. Wenigstens methaphorisch.

Marc Augé: „Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit“. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1994, 141 Seiten, 29,80 DM