Bettler sind „Beleidigungen für das Auge“

■ Premierminister Major will Großbritanniens Straßen touristenfein machen

London (taz) – Bettler sind – glaubt man dem britischen Premierminister John Major – verkappte Millionäre. Sie haben die Taschen voller Geld und Wohnungen in den Vororten, vor denen ihre Autos geparkt sind. „Es ist völlig unakzeptabel, daß Leute auf der Straße leben“, sagte Major am Wochenende in einem Interview mit der Evening Post in Bristol. „Dafür gibt es heutzutage keinen Grund. Wir haben ein soziales Sicherheitsnetz in diesem Land.“

Major stützt seine Behauptungen auf die Boulevardpresse, die in letzter Zeit häufig über Sozialhilfebetrügereien berichtet hat. Der Premierminister will mit den „Beleidigungen für das Auge“, wie er obdachlose Bettler nennt, gnadenlos aufräumen, weil Touristen und Kauflustige den Einkaufsvierteln ihretwegen fernblieben. Major forderte die Bevölkerung auf, Bettler rigoros anzuzeigen. Nach einem Gesetz von 1824 kann Betteln mit einer Geldbuße von rund 2.600 Mark oder einem Monat Gefängnis bestraft werden. Obdachlose, die im Freien schlafen, können mit 200 Pfund zur Kasse gebeten werden. „Ich finde, dieses Gesetz muß angewendet werden“, sagte Major. „Betteln ist eine ekelhafte Angelegenheit.“

Majors Kriegserklärung an die Bettler zielt auf die Tory-Basis ab, auf deren Stimmen es für ihn bei der Europawahl ankommt. Eine Umfrage des Guardian hat vor ein paar Tagen ergeben, daß ein Großteil der Tory-WählerInnen am 9. Juni – die BritInnen wählen drei Tage früher als die anderen EuropäerInnen – zu Hause bleiben werden. Die Torys könnten sogar von bisher 36 Sitzen auf ganze sechs absacken, glaubt die Zeitung. Dann müßte Major wohl umgehend seinen Hut nehmen. Ob er das Schicksal wenden kann, indem er Randgruppen zu Sündenböcken erklärt, ist unwahrscheinlich. Ebenso wie Sozialminister Peter Lilleys Attacke gegen ledige Mütter, die er im vergangenen Jahr zu „Schmarotzern“ erklärte, treibt jetzt auch Majors Offensive selbst Parteigenossen die Schamesröte in die Gesichter.

Majors Behauptungen sind nicht nur zynisch, sondern von Sachkenntnis völlig ungetrübt. Denn kaum waren die Torys 1979 an der Macht, begannen sie mit der Demontage des Sozialstaats. Zunächst legten sie die Latte für Kleidungszuschüsse so hoch, daß die Zahlungen um 84 Prozent zurückgingen. Wer sich seitdem ein Paar neue Schuhe leisten will, muß eben an den Heizkosten sparen. Zeitungsmeldungen, daß vor allem alte Menschen in ihren Wohnungen erfroren seien, haben sich seitdem gehäuft. Und wer es zuhause warm haben will, muß am Essen sparen. Da war es nur konsequent, daß die Torys auch die Zuschüsse für Tische und Stühle strichen. Die Thatcher-Regierung begründete, dadurch würde das Verantwortungsbewußtsein der Armen gestärkt und eine bessere Haushaltsplanung gefördert.

Die Londoner Behörden haben 300.000 Menschen als obdachlos anerkannt. Hilfsorganisationen schätzen, daß mindestens genauso vielen die Anerkennung verweigert wurde. Jugendlichen unter 18 Jahren hat die Major-Regierung die Sozialhilfe gestrichen. Seitdem ist die Zahl der Bettler in dieser Altersgruppe drastisch gestiegen. Viele leben unter den Eisenbahnbrücken in der „Pappstadt von Waterloo“. Einer von ihnen, der 28jährige Paul Howarth, sagte am Wochenende: „Major redet wie ein Nazi.“ Ralf Sotscheck