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Erich Honecker ist tot. Noch zu seinen Lebzeiten hatte sich die Ära Honecker in Geschichte verwandelt. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen angestrengt-hölzernen Regisseur und sein beklemmendes Stück. Bei der Reform des Sozialismus kam er zu spät. Und wurde vom Leben bestraft. Von Matthias Geis

Der letzte Funktionär des Gartenzwergsozialismus

Natürlich hatte ich nicht nur Glück im Leben, es gab auch unglückliche Ereignisse, und es gab komplizierte Probleme zu lösen. Aber ich möchte doch sagen, daß ich im großen und ganzen durch alles hindurchgekommen bin, und nicht schlecht.“

Um gut dreieinhalb Jahre hat ihr herausragendster Politiker den Untergang der DDR überlebt. Noch zu seinen Lebzeiten hat sich die Ära Honecker in Geschichte verwandelt. Was bleibt, ist Erinnerung an einen angestrengt-hölzernen Regisseur und sein beklemmendes, manchmal brutales, langweilig-enges Stück. Ein spektakulärer Reinfall – wissen wir heute. 1987 zum Bonner Staatsbesuch, dem späten Höhepunkt seiner Karriere, war das noch anders. „Empfangt ihn als einen unserer Brüder“, empfahl Helmut Schmidt. Doch weil sein damaliger Triumph auf dem roten Teppich in Bonn zugleich den Umschlagpunkt markierte, nach dem das Desaster des Arbeiter- und Bauernstaates seinen rasanten Lauf nahm, haben heute die Fragen nach der Bedeutung Honeckers eigentlich nur noch die Pietät zum Anlaß.

Unter den jüngeren Helden des Sozialismus ist Erich Honecker der tragischste. Mit seinen ehemaligen Führungsgenossen teilte er die Erfahrung des tiefen Sturzes, der zugleich das Ende ihrer sozialistischen Regime bedeutete. Doch Honecker kamen zudem Staat und Heimat abhanden. Und seine politische Lebensbilanz wirkt besonders deprimierend, weil selbst im Rückblick kaum auszumachen ist, welchen Fehler er hätte vermeiden, welche Chance rechtzeitig nutzen sollen, um beide zu retten.

Zweifellos kam Honecker, gemessen am osteuropäischen Standard, „zu spät“ bei der Reform seines Sozialismus; aber vielleicht sträubte er sich nicht nur aus Altersstarrsinn, sondern weil er eher als Gorbatschow ahnte, daß auch das Einhalten des Reformfahrplanes das Ende der DDR ebenso sicher eingeleitet, vielleicht sogar beschleunigt hätte, wie die sture Stagnation der letzten Jahre.

Die kontrollierte Reform war in der DDR ein Geschäft, bei dem die Frage nach Sein oder Nichtsein des Sozialismus deutlicher mitschwang als in anderen Ländern. Gemessen daran hat Honecker die neuralgischen Punkte, die ihm Ulbricht 1971 hinterlassen hatte, zielstrebig in Angriff genommen. Innerdeutsche Entspannung, Ende der internationalen Isolation, Steigerung des Lebensstandards, liberalere Kulturpolitik, Reiseerleichterung, entspannterer Umgang mit der Kirche, all das hätte am Ende auf Honeckers Habenseite gestanden. Doch in der ganzen Ära verwies das SED-typische Stop-and-go, der unberechenbare Wechsel von Liberalisierung und Repression auf die innewohnenden Risiken. Sie entluden sich am Ende schlagartig und bewiesen damit noch einmal spektakulär, wie wirklichkeitsnah das Retardierende der Honeckerschen Politik, ihre vermeintliche Realitätsferne, gewesen war. Die dynamische wie die senile Variante des Sozialismus bargen für Honecker nur unterschiedliche Varianten des Scheiterns, nicht mehr.

Honeckers Fehler sind prinzipieller Natur. „Ich würde“, erklärte er nach seinem Sturz, „im Grunde genommen den gleichen Weg gehen, in Verbindung mit den neuen Erkenntnissen, die wir gesammelt haben.“ Weil das Primat des Sozialismus für Honecker nie in Frage stand, war er als Politiker ohne wirkliche, rettende Alternative.

„Wir können glücklich darüber sein und brauchen uns vor niemandem zu entschuldigen, daß es den Bürgern der DDR so gut geht“, ließ Honecker 1989, als die Krise des Systems schon ihrem Höhepunkt zutrieb, die Leser der Jungen Welt noch einmal wissen. Zweifellos zeugt Honeckers trotzig-stolze Eloge auf die bescheidenen Konsummöglichkeiten, die tristen Wohnghettos und die mangelnde Freizügigkeit des DDR-Sozialismus vom massiven Realitätsverlust des 77jährigen. Doch war es seine Überzeugung. Denn eher als am westlichen Lebensstandard dürfte er die Normen des Bergarbeitersohnes, Jahrgang 1912, zugrunde gelegt haben, der in einer Atmosphäre der Enge, materieller Not und früher Politisierung im Saarland aufwuchs.

Aus dieser Perspektive jedenfalls geriet die DDR zum gelungenen Gegenmodell. Die frühen Entbehrungen, die Quellen der Unterdrückung, unter der er, seine Familie und seine Kampfgenossen gelitten hatten, in der DDR waren sie beseitigt: keine „Schlotbarone“, deren Herrschaft bis in die Familien reichte, keine Ausbeutung, unter der sie zu leiden hatten, keine Faschisten, die die Genossen jagten, statt dessen Arbeit für alle, subventionierte Grundversorgung, ein gigantisches Wohnungsbauprogramm, Feierabendheime, Turnhallen ...

Ein Eldorado der kontrollierten Bedürfnisse

Honecker mußte keine Realitäten schönen, um sie seiner Utopie anzunähern. Vielmehr erscheint die Utopie so bescheiden, daß schon die DDR-Lebenswelt sie einlöste.

Nichts im Leben Honeckers deutet auf überschießende Wünsche. Aus dieser Not hat er eine Tugend gemacht. „Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Ich war sozusagen ein Spätzünder auf diesem Gebiet. Mich interessierte das politische Leben“, antwortet er auf die Frage nach seiner ersten Liebe. Das Spießig-Enge wurde seine Mission, ein Beglückungsterror eingeschnürter Bedürfnisse. Ihn findet man in der Brutalität der Wohnarchitektur, den dürftigen Konsumgütern, der skurril-grauen Ästhetik, den kleinbürgerlichen Verhaltensnormen. Geborgenheit war unter Honecker Staatsdoktrin, Zufriedenheit ein Muß. Jeder Republikflüchtling – ein Dementi der gelungenen Idylle. Wer sich der Dürftigkeit entziehen wollte, auf den wurde geschossen.

Nie zuvor ist ein Arbeiter in Deutschland so hoch aufgestiegen. Die Grundlage: acht Jahre Volksschule, eine abgebrochene Dachdeckerlehre und – eine bruchlose Parteikarriere: 1922, mit zehn Jahren, Mitglied der kommunistischen Kinderorganisation Jung-Spartakus-Bund, 1926 Eintritt in den Kommunistischen Jugendverband (KJVD), 1928, mit 17 Jahren, Mitglied der KPD, 1930/31 Leninschule der Komintern in Moskau, 1931 Agitprop-Leiter des KJVD, Bezirk Saar, 1935 Leiter der illegalen Arbeit des KJVD in Berlin, dort 1935 verhaftet, 1937 vom Volksgerichtshof zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, anschließend Haft in Brandenburg-Görden, 1945 Befreiung durch die Rote Armee, im selben Jahr Jugendsekretär beim ZK der KPD, 1946 FDJ- Vorsitzender, Mitglied im ZK der KPD, dann im Parteivorstand der SED, 1950 Kandidat des Politbüros, 1958 Vollmitglied im Politbüro und ZK-Sekretär für Sicherheit und Kaderfragen, 1971 Nachfolger Walter Ulbrichts als Erster Sekretär des ZK der SED, im gleichen Jahr Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, 1976 Staatsratsvorsitzender der DDR.

Sechzig Jahre hat Honecker seiner Partei als hauptamtlicher Funktionär gedient. Sie war für ihn Jugendersatz, Bildungsanstalt und Karrierefeld. Glaubt man seinen Erinnerungen, wurde ihm die Karriere quasi in die Wiege gelegt: „Damals, in den Tagen der Novemberrevolution, erklärte mir mein Vater in seiner einfachen Art, warum die Reichen reich und die Armen arm sind, woher die Kriege kommen, wer an den Kriegen verdient hat und wer unter ihnen leidet. Für mich war das einleuchtend. Ich gewann ein klares Weltbild. Ich nahm mir vor, mein Leben dem Kampf für eine Welt des Friedens und des Sozialismus zu widmen.“

Irritationen zwischen ihm und seiner Partei sind nicht überliefert. Irritationen gab es mit anderen, und immer stand Honecker auf der Seite der Sieger. 1958 etwa hielt er die Verdammungsrede gegen den damals zweiten Mann der Partei, Karl Schirdewan – und übernahm seine Funktion. 1971 verhandelte er dann mit Breschnew den Abgang Ulbrichts. Der Nachfolger lammfromm: „Das war ein sehr kulturvoller Übergang von einem Älteren auf einen Jüngeren.“

Honecker hat alle ideologischen Kurven der KPD – Sozialfaschismusthese, Einheitsfront, Hitler- Stalin-Pakt – spielend nachvollzogen. Nach Chruschtschows Enthüllungen über die stalinistischen Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU nahm Honecker das Stalin-Portrait von der Wand. Ansonsten galt: „Wir haben darüber nach dem XX. Parteitag diskutiert. Wir haben gesagt, das ist schlimm, aber die Revolution muß weitergehen.“ Die Annahme, daß Honecker stalinistischen Exzessen widerstanden hätte, wären sie wie in Ungarn, Polen oder der ČSSR auch in der DDR inszeniert worden, ist kaum zu begründen. Die deutsche Variante zur Bewahrung des Sozialismus jedenfalls, den Mauerbau, hat er mit Energie und Umsicht organisiert, die Toten als bedauerliche, aber unvermeidliche Opfer hingenommen.

Volle Anerkennung – kurzer Prozeß

Bei aller Fixierung auf den Sozialismus, die Partei und das „Heimatland aller Werktätigen“, den proletarischen Minderwertigkeitskomplex hat Honecker auch als Staatschef nicht überwunden. Zum vollen Erfolg gehörte deshalb die „volle Anerkennung“ durch den Klassenfeind. Anerkennung, das war für Honecker kein bloßer terminus technicus im deutsch- deutschen Geschäft. Anerkennung war Herzenssache. Bonn, der Inbegriff der Bedrohung, war für ihn zugeich die höchste Legitimationsinstanz. Den Konflikt mit der Sowjetunion jedenfalls hat Honecker nur ein einziges Mal gewagt: 1983, um die deutsch-deutschen Beziehungen nicht abkühlen zu lassen. Drei Jahre ist er gegen das Reiseverbot von Tschernenko und Gorbatschow angerannt. 1987 durfte er fahren. Die ersehnte Anerkennung geriet zur kurzen Illusion. Keine drei Jahre danach zahlten seine einstige Untertanen bereits mit West-Mark, war das Ende der DDR vertraglich geregelt, und die Partner von einst machten sich schon Gedanken über deutsch- deutsche Vergangenheitsbewältigung.

Eine Groteske nimmt ihren Lauf: Im Januar 90 verhaftete ein frisch gewendeter DDR-Staatsanwalt den gestürzten Staatschef in der Berliner Charité, Honecker flüchtet unter das Dach der Kirche. Ein Unterkunftswechsel scheitert an den wütenden Protesten von Anwohnern. Auch einst fähnchenschwenkende, fackelziehende Untertanen entdeckten ihren Haß auf den gestürzten Potentaten. Honecker flüchtet, erst zur Roten Armee nach Beelitz, dann in die Sowjetunion. Auch deren Ende erlebt Honecker vor Ort. Jelzin will ihn nicht mehr, die chilenische Botschaft bietet Asyl, Moskauer Ärzte schreiben die gewünschten Auslieferungsatteste... Am Ende landet Erich Honecker in Berlin.

Unter den diversen Argumenten für den Prozeß war eines besonders geeignet, das „klare Weltbild“ Honeckers über dessen Lebenskatastrophe hinwegzuretten: Was die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu wünschen übriggelassen habe, sollte die Bundesrepublik mit einer konsequenten Verfolgung der SED- Verbrechen kompensieren.

Honeckers Prozeß-Erklärung wurde in der Öffentlichkeit als „Dokument des Starrsinns“ abgehakt. Doch selbst in Honeckers Starrsinn liegt, angesichts der Wendigkeit in Ost und West, noch eine Spur von Würde. Daß alle prominenten Partner Honeckers zu dessen Prozeß geschwiegen haben, gehört zu den deprimierenderen Erfahrungen mit der politischen Kultur der Republik. Auf diese Wunde hat Honecker vor Gericht genüßlich-bitter den Finger gelegt: „Entweder haben die Herren Politiker der BRD bewußt, freiwillig und sogar begierig Umgang mit einem Totschläger gesucht, oder sie lassen jetzt bewußt und genußvoll zu, daß Unschuldige des Totschlags bezichtigt werden. Keine dieser beiden Möglichkeiten wird ihnen zur Ehre gereichen. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.“

Niemand hat von Erich Honecker ernstlich Einsicht erwartet. Doch die Demütigung durch die Sieger dürfte seine Verdrängungsbereitschaft eher noch gesteigert haben. Die Verantwortung für die Opfer an der Mauer jedenfalls hat er nur floskelhaft übernommen, den gewaltigen Repressionsapparat hat er verniedlicht, seine eigene Rolle heruntergeredet: „Wissen Sie, das ist heute so in Mode gekommen, alle Verantwortung auf die Spitze zu schieben... Natürlich hatte ich die einzelnen Funktionen, aber wenn man daraus die Schlußfolgerung zieht, daß ich alles hätte wissen müssen, dann hat man eine falsche Vorstellung von dem Mann, der an der Spitze stand.“ Das ging gegen die allzu glatte Schuldprojektion wendiger Untertanen von einst und war zugleich eine ins Unverschämte spielende Selbstabsolution.

Und dennoch, auch der umgekehrte Versuch, aus Honecker die Personifikation des Systems und seiner Inhumanität zu machen, scheiterte. Seiner Macht entkleidet, saß er auf der Prozeßbank, ein hinfällig wirkender alter Mann, und allenfalls, daß er auf den Reflex der Blitzlichter unwillkürlich in die Pose des Staatratsvorsitzenden verfiel, erinnerte noch an seine große Zeit.

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