Treibjagd im Mittelfeld

Fußball-Länderspiel Deutschland – Irland 0:2 / Laufstarke Iren scheuchten respektlos den Noch-Weltmeister über den Platz  ■ Aus Hannover Matti Lieske

„Schlecht für Berti, gut für mich“, raunzt Jack Charlton zufrieden, läßt seine berühmten stahlblauen Augen strahlen und lächelt spitzbübisch wie ein irischer Priester bei der Kollekte. „Eine große Sache für ein kleines Land“ sei Irlands 2:0-Sieg im Land des Weltmeisters, auch wenn es sich nur um ein Freundschaftsspiel gehandelt habe, für das er sich letztlich nichts kaufen könne. „Aber“, sagt der 58jährige Engländer und verleiht seinem demonstrativen Dubliner Akzent noch ein wenig mehr Urtümlichkeit, „für unsere Fans ist es prima.“ Dann verabschiedet er sich mit Hinweis auf seine durch Erkältung angegriffene Kehle von den Journalisten und entzündet gleich darauf eine Zigarre, deren Ausmaße selbst einen Winston Churchill in Angst und Schrecken versetzt hätten.

Während sein einst weit berühmterer Bruder Bobby, mit dem er 1966 Weltmeister wurde, inzwischen die Nationalmannschaft von Sierra Leone betreut, hat Jack Charlton die Fußballmannschaft eines Landes übernommen, das die Engländer weit exotischer dünkt als jedwedes afrikanische, und damit ungeahnte Erfolge erreicht. Zuerst begab er sich hartnäckig auf die Spuren irischer Großmütter, um die Spielberechtigung ihrer Nachkommen für Irland nachzuweisen, dann brachte er den solchermaßen entdeckten Enkeln eine ebenso einfache wie wirksame Spielweise bei: dem Gegner möglichst früh den Ball abnehmen und möglichst schnell in dessen Tor befördern. „Wir sind nicht wie die Norweger“, sagt Charlton, „wir spielen am liebsten in der gegnerischen Hälfte.“ Niemand solle aber glauben, daß sein Team so wenig filigran agiere, weil es nicht anders könne, doziert er, und seine lange, dürre Gestalt, die ihm den Beinamen „Giraffe“ eingebracht hat, reckt sich noch ein Stückchen mehr gen Himmel: „Wir könnten auch ,Knockabout‘- Fußball spielen, aber wir wollen eben nicht.“ Warum auch, wenn die bewährte Taktik so gut klappt wie gegen die Deutschen, die dem irischen Forechecking ziemlich hilflos gegenüberstanden. „Auch technisch gute Verteidiger machen Fehler, wenn man sie jagt“, weiß der Ex-Vorstopper Jack Charlton aus eigener Erfahrung, und seine dichte Mittelfeldkette jagte die leicht überheblichen Deutschen so beherzt, daß deren Fehler dem Bundestrainer die Zornesröte ins Gesicht trieben. „Unordnung im Mittelfeld“ konstatierte Berti Vogts, und Debütant Rudi Völler wunderte sich: „Irland war ein starker Gegner. Das haben wohl die wenigsten erwartet.“

Als alt und langsam galten die „Irländer“ (Lothar Matthäus) zuvor, und manch einer der Renner im Gastgeber-Team freute sich schon auf Sprintduelle der Sorte Hase gegen Igel. Doch dann ließ Charlton ältere Leute wie John Aldridge (35), Ray Houghton (31) oder Ronnie Whelan (32) auf der Bank und brachte junge Flitzer wie Keane (22), McAteer (22) oder den 19jährigen Gary Kelly, die den Spielraum der Deutschen auf wenige Quadratmeter beschränkten. Ein paar gelungene Doppelpässe, zwei gute Wagner-Flanken auf Klinsmann und Völler sowie zwei eher zufällige Lattentreffer und eine große Sammer-Chance waren so ziemlich alles, was der Weltmeister vor 50.000 enttäuscht pfeifenden Zuschauern zustandebrachte, ansonsten traf zu, was Jack Charlton so ausdrückte: „Wir bekamen die Bälle, und wir schossen die Tore.“ Das erste in der 31. Minute durch Cascarino-Kopfball, das zweite durch einen abgefälschten Schuß von Gary Kelly (69.), beide nach einer Kette von Patzern der deutschen Abwehr.

Andreas Möller ging völlig unter, Martin Wagner war überfordert, Mario Basler überhastet, Stefan Effenberg spielte, obwohl mit dem AC Florenz gerade aufgestiegen, wie ein Zweitligist, Thomas Häßler dribbelte emsig, aber fruchtlos, Karlheinz Riedle sprang hoch, aber daneben, Matthäus war fast ausschließlich mit Löcherstopfen befaßt, und Jürgen Kohler verlor beinahe jedes Kopfballduell, vermutlich weil er seine an der Karikatur eines Mafiakillers orientierte Frisur nicht durcheinanderbringen wollte. Einziger Lichtblick: Thomas Berthold überstand 54 Minuten ohne Platzverweis.

Am Ende gab es die üblichen Statements: Dämpfer zur rechten Zeit, mangelnde körperliche Fitneß nach hartem Trainingslager, Chancen besser nutzen, Publikum gemein, wirklich wichtig wird es erst am 17. Juni im WM-Eröffnungsspiel gegen Bolivien. Allzu tragisch wurde das Debakel nicht genommen, schlechte Spiele vor großen Turnieren sind normal, und Vogts war sogar froh, daß es eine Niederlage gab und nicht „ein glückliches 2:2“. Komplizierter wird es für Jack Charlton. „Die Iren werden nun ein bißchen ernstergenommen“, vermutet er, und: „Der Druck auf mich wird größer.“ Das ist äußerst vornehm ausgedrückt. Von Wexford bis Donegal City dürfte es nun niemanden mehr geben, der daran zweifelt, daß der nächste Weltmeister Irland heißt.

Irland: Alan Kelly - Irwin (46. Gary Kelly), McGrath, Babb, Phelan - McAteer (87. Houghton), Keane, Sheridan (46. Whelan), Townsend, Staunton - Cascarino (69. Coyne)

Zuschauer: 50.000; Tore: 0:1 Cascarino (31.), 0:2 Gary Kelly (69.)

Deutschland: Illgner - Matthäus - Kohler (46. Effenberg), Buchwald (36. Berthold) - Strunz, Basler, Möller (46. Häßler), Sammer, Wagner - Riedle (67. Völler), Klinsmann