Finstere Tätigkeiten

■ War Marcel Reich-Ranicki ein polnischer Spion? Zu einem Beitrag von Tilman Jens im "Kulturweltspiegel" der ARD

Die Menschheitsgeschichte kennt nur wenige solcher Sternstunden: Im Mai 1958 trafen sich im Warschauer Hotel „Bristol“ der polnische Literaturkritiker Marceli Raniči und der aufstrebende deutsche Schriftsteller Günter Grass. Sie debattierten über dies und das, deutsche Literatur und ihre Bedeutung in der Nachkriegsgesellschaft im allgemeinen und über Grass und die „Blechtrommel“, die noch nicht vollendet war und erst im Jahr darauf erscheinen sollte, im besonderen. Das übliche Eheanbahnungsgeschwätz halt, denn schließlich wollen Kritiker und Autor eine Symbiose eingehen, von der beide zu profitieren gedenken.

Der dazumal noch ziemlich unbekannte Grass fühlte sich in Warschau offenbar ziemlich einsam, weshalb er sich schon vor dem Auftauchen des Kritikers betrunken hatte. Die Sternstunde erwies sich deshalb eher als blaue Stunde. Der nachmals auch in der Bundesrepublik berühmte Kunstrichter Reich-Ranicki kannte gleichwohl kein Pardon, fragte Grass nach der „gesellschaftlichen Funktion“ seiner „Blechtrommel“, erfuhr enttäuschend wenig darüber und erklärte den Schriftsteller schließlich für einen „bulgarischen Spion“. Sagt jedenfalls Grass.1

Reich-Ranicki selber will nur enttäuscht gewesen sein und gesagt haben, Grass habe bestimmt nicht wie ein Schriftsteller ausgesehen, „sondern wie ein ehemaliger bulgarischer Partisan, der jetzt in Sofia als Sportfunktionär tätig ist und den man nach Warschau geschickt hat, um irgendeinen Länderkampf zu vereinbaren“.2 Na ja, Fußball ist unser Leben.

Wenn aber Tilman Jens, Sohn des Rhetorikprofessors Walter Jens, mit welchem der Literaturpapst zunächst eine heftige Freundschaft und dann eine noch heftigere Fehde austrug, tatsächlich recht hätte, dann müßte jetzt allgemeine Enttäuschung ausbrechen. Denn dann war, Schnauzer hin oder her, keineswegs der betrunkene Grass der Spion, sondern der heutige Fernsehrichter Marcel Reich-Ranicki. Bevor der 1958 in die Bundesrepublik übersiedelte, soll er, so Jens am Sonntag abend im „Kulturweltspiegel“, für den polnischen Geheimdienst gearbeitet haben.

Wie man sich diese finstere Tätigkeit vorzustellen hat, wurde trotz eines schwer konspirativen Telefonats, das Jens von einem Tonstudio des NDR aus mit dem ehemaligen Dunkelmann Starzynsky, früher Warschau, heute Neuseeland, führte, allerdings nicht so recht klar.

Wie jedem bekannt ist, der es wissen will, durfte Ranicki von 1947 bis 1949 in London als polnischer Konsul amtieren, was gewiß damit zu tun hatte, daß er Mitglied der KP war und mindestens als so loyal galt, daß er nicht den Verlockungen des Westens erlag. Danach will sich Ranicki von der reinen Lehre gelöst haben. Das sah so aus, daß er sich von der Politik in die Literaturpolitik veränderte. In seinen legendären Aufsätzen, die er bis 1958 in Polen veröffentlichte, predigte Ranicki munter das Evangelium nach Georg Lukacs, den sozialistischen Realismus. Auf die Weise wurde auch der arme Theodor Fontane auf seine gesellschaftliche Funktion abgeprüft und als zu leicht befunden. Aber warum nicht? In der Bundesrepublik jener stockfinsteren fünfziger Jahre vermöbelte Friedrich Sieburg derweil Wolfgang Koeppen, weil der es wagte, sich mit der sogenannten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu befassen.

Die Literaturpolitik des jetzt als Geheimagent enttarnten Kritikers hat vermutlich niemandem geschadet. Polen hat er nachweislich nicht destabilisiert, dafür aber die deutschsprachige Nachkriegsliteratur auf Linie gebracht. Statt des sozialistischen predigte Reich-Ranicki, kaum im Westen angelangt, den kapitalistischen Realismus und befördert bis heute die Schnarchsackliteratur à la Frisch und Lenz. Erst in der Bundesrepublik hat der Einflußagent tatsächlich Macht gewonnen.

Unvergessen beispielsweise, wie er den unsicheren Kantonisten Martin Walser umdrehte, indem er seine Erzählung „Jenseits der Liebe“ (1976) nach allen Regeln stalinistischer Philologie auseinandernahm und Walser den neuen Klassenstandpunkt zeigte, den er gefälligst einzunehmen habe. Walser weiß seitdem, wo ihm der Kopf zu stehen hat.

Es wurde zum Hobby Reich- Ranickis, inzwischen zum Leiter des Literaturblatts im Parteiorgan Frankfurter Allgemeine Zeitung avanciert, Kommunisten und andere Abweichler von der neuen Linie erst zu züchtigen und dann für ihre Bekehrung zu streicheln: Ulla Hahn, Peter Schneider und genug andere übten Selbstkritik und wurden staatstragend.

Aber das müßte Tilman Jens erst noch beschreiben. Das Gipfeltreffen der beiden Spione im Hotel „Bristol“ in Warschau kann erst der Anfang eines großen realistischen Romans sein. Willi Winkler

1) Günter Grass: Rückblick auf die Blechtrommel – oder Der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache“. In: „Süddeutsche Zeitung“, 12./13. Januar 1974.

2) Marcel Reich-Ranicki: „War Grass ein bulgarischer Spion?“ In: „Der Spiegel“, 9. April 1990, S. 243–250