■ Programm, Erscheinungsbild und Strategie der SPD
: Falsche Signale zur falschen Zeit

1. Die SPD gilt als sozialpolitisch kompetent – ist sie es auch? Außer vielen schönen Formeln – „Beschäftigungspakt“, „Aufbauprogramm Ost“, „Technologie-, Forschungs- und Bildungsoffensive“ – hat die Partei noch zu wenig zu bieten im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Gerade da, wo Konkretion angebracht wäre, bleibt man bewußt vage. Kein Wunder. Kaum einer glaubt noch an die ewige Vollbeschäftigungsrhetorik, fast jeder weiß, daß es „so nicht mehr weitergehen“ kann – die SPD indes macht kaum Anstalten, die Neugier des Publikums zu befriedigen. In wenig produktiven Bereichen der Volkswirtschaft liegt viel Arbeit brach, weil ihre Kosten zu hoch sind; es gibt das Modell der Subventionierung niedriger Erwerbseinkommen durch den Staat – nur die Sozialdemokraten schweigen dazu. Was nützt es zudem, einen „stabilen, leistungsfähigen Sozialstaat“ bloß zu beschwören – wo doch jeder weiß, daß die öffentliche Fürsorge so nicht mehr finanzierbar ist und daß die Sozialstaatsbürokratie längst selbst zum Problem geworden ist? Es gibt Überlegungen und Konzepte, die staatliche Sozialpolitik mit Elementen solidarischer Selbsthilfe neu zu verzahnen – die SPD indes redet vom „Umbau“, tatsächlich klammert sie sich an Unhaltbares.

2. So schwierig es ist, ein Erscheinungsbild zu präsentieren, das den Erwartungen und Identifikationsbedürfnissen von Blaumännern und Weißen Kragen gleichermaßen gerecht wird – wer am lautesten „Arbeit, Arbeit, Arbeit!“ ruft, wird noch lange nicht für wirtschaftspolitisch kompetent gehalten. Je breiter er wird, der Silberstreifen am Konjunkturhorizont, desto mehr wirkt „Arbeit, Arbeit, Arbeit!“ wie der verzweifelte Ausruf jener Minderheit, die beobachtet, wie ihr Schicksal für die Mehrheit wieder zur bloß moralischen Frage wird. Nun rächt sich, daß die SPD allzu einseitig einen „Schutzmacht der kleinen Leute“-Diskurs gepflegt und wieder einmal Wirtschafts- und Sozialpolitik verwechselt hat.

Auch die Arbeiter und kleinen Leute halten nämlich nicht den für wirtschaftspolitisch kompetent, der sich ihnen als Betriebsrat andient, sondern den, der ökonomischen Sachverstand mit der Fähigkeit zur Kooperation mit innovativen Funktionseliten verbinden zu können verspricht. Diese Erwartungen hat Scharping – auch auf der Ebene symbolischer Politik – eher enttäuscht. Zu wenig ist getan worden, um besonders jene zu binden, mit denen die SPD seit den siebziger Jahren schon ihre Schwierigkeiten hat: die Aufsteiger und Arrivierten, die Modernisierungsgewinner, die technische Intelligenz.

3. Die SPD möchte everybody's darling sein und verkennt, daß die verehrte Mitte der Gesellschaft gar nicht so reformfeindlich ist – und vor allem nicht so dumm, nicht zwischen Kurskorrektur und Opportunismus unterscheiden zu können. So zutreffend es im Interesse des endlichen Machterwerbs ist, die lose gebundenen Wähler der CDU zu umwerben – so sehr sollte man sich klarmachen, daß es sich dabei nicht ausschließlich um Spießer und Biedermänner handeln dürfte, sondern beispielsweise um kritische Wechselwähler. Nicht Anpasserei und purer Opportunismus wird sie von der SPD überzeugen. Im Augenblick drängt sich jedoch der Verdacht auf, daß die SPD-Spitzen geradezu felsenfest davon überzeugt sind, die Wähler vertrauten der Kopie eher als dem Original.

Zugestanden, die Bürger sehnen sich in ihrer Mehrheit gewiß nach Sicherheit, von Reformeuphorie kann keine Rede sein, sie läßt sich von einer Partei auch nicht künstlich erzeugen. Ob die Mitte aber so schreckhaft ist, daß man wirklich Grund hat zu fürchten, sie ließe sich mit ein paar unfreundlichen Schlagzeilen flugs ins andere Lager treiben?

Gehören zur politischen Mitte nicht auch etwa jene Eltern, die eine Kita aufmachen, ohne die Rundumfinanzierung durch den Sozialstaat abzuwarten, jene Betriebsräte und Arbeitnehmer, die sich auf Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich einlassen, jene Diplom-Ingenieure, die sich als ökologische Tüftler betätigen, jene Lehrer, die sich nach Feierabend in der Dritte-Welt-Solidarität engagieren, und jene Manager, die mit flachen Hierarchien experimentieren? Die Bereitschaft zur Selbsttätigkeit, zur Übernahme von Verantwortung, zum Verlassen eingefahrener Gleise, ja sogar zum Verzicht im Interesse der Lebenschancen anderer – all dies ist doch vorhanden. Wäre die Mitte der Gesellschaft wirklich so realitätsscheu und veränderungsunwillig, wie SPD-Strategen annehmen, wie – bitte schön – ist dann eigentlich die Popularität eines Kurt Biedenkopf zu erklären, der für sein Publikum fast regelmäßig Schreckensbotschaften bereithält – bis hin zur gefährdeten Rente?

4. Die SPD präsentiert sich seltsam unzeitgemäß – vor vier Jahren war sie dem Fahrplan voraus, heute trottet sie ihm ängstlich hinterher. So unzutreffend es wäre zu behaupten, die SPD sei damals nur wegen „Oskars“ unterschwelliger Anti-Ossi-Haltung und seiner verquer gestellten Frage nach den Kosten der Einheit in den 33-Prozent- Turm verwiesen worden, so falsch wäre es andererseits, sich selbst und anderen einreden zu wollen, man sei vorrangig an der Bild-Zeitung gescheitert, die die Wähler mit Horrormeldungen über sozialdemokratische Benzinpreise ins andere Lager getrieben hätte. Nein, die Dinge lagen wohl etwas komplizierter. Sich plötzlich auf die veränderten Prioritäten – statt ökologischem Umbau die Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit des Vaterlandes – umzustellen, das war für eine moderne, ökologisch aufgeschlossene und ziemlich postnationalistische SPD objektiv wohl ziemlich schwierig.

Die Erfahrungen von 1990 können jedenfalls kein Vorwand sein für den Verzicht auf politische Führung und ökologisches standing. Daß die Partei ökologisch kompetent ist, läßt sich doch – erst recht nach den jüngsten Debatten um das Regierungsprogramm – gar nicht ernsthaft bestreiten. Warum wuchert man dann nicht mit seinen Pfunden und verzichtet endlich auf solche Signale, die stets aufs neue den Verdacht nähren, die SPD meine es mit dem eigenen Programm nicht gar so ernst? Spott über grüne Askese oder grünen Fundamentalismus o.k., aber muß man wirklich noch jede Beteuerung ökologischer Fernziele als baren Unsinn diskreditieren (wo doch Ähnliches auch im sozialdemokratischen Grundsatzprogrammm zu finden ist)? Gerade wer über Koalitionen nicht reden will – und dafür spricht in der Tat einiges –, der sollte um so mehr darauf bedacht sein, das eigene ökologische Profil zu schärfen.

Sonst könnte die SPD am Ende sowohl die alte Mitte der Gesellschaft verfehlen, wie auch jene neue Mitte, die von einer Regierungspartei erwartet, daß sie vor den Herausforderungen der Zeit nicht kneift, sondern die einmal als notwendig erkannten Strukturreformen auch mutig anpackt. Denn nur wer heute die Weichen umstellt, kann auch morgen noch sicher leben. Michael Scholing

Redakteur beim sozialdemokratischen Traditionsblatt Vorwärts