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Ungarns Nelken-Sonne leuchtet

Sozialisten erringen bei den Parlamentswahlen absolute Mehrheit / Wahrscheinlich keine Koalition mit den Liberalen / Innerparteilicher Streit um Wirtschaftsprogramm erwartet  ■ Aus Budapest Keno Verseck

„Der Platz hier gehört uns!“ Unter dem Spruchband eine Grafik der neuen Sitzaufteilung im Parlament – die Mehrheit der Kästchen ist rot ausgemalt. Nicht aggressiv wie die plakative Forderung, sondern in ganz auf sich selbst gerichteter Freude feierten die Anhänger der ungarischen Sozialisten in der Nacht von Sonntag auf Montag ihren Wahlsieg, die absolute Mehrheit im neuen Parlament.

Ein neuer, tiefblauer Teppich schmückt nun das Foyer der sozialistischen Parteizentrale. Doch der Wechsel des Bodenbelages in dem kalten, schmucklosen Gebäude hat nur das Halbparterre erreicht, wo eine riesige rosarote Nelken- Sonne, das Parteisymbol, leuchtet. Im ersten Stock liegen alte, schmutzigrote Teppiche aus. Gebrauchte Bücher werden feilgeboten: Richtig Kochen, Modernes Sexualleben, vergessene Sowjet-Autoren und – Dante, „Die Alleinherrschaft“.

Mit der Abgeordnetenmehrheit, über welche die Sozialisten nach der zweiten und letzten Runde der Parlamentswahlen verfügen, könnten die Sozialisten nun, wie einst, wieder allein herrschen. Doch Parteichef Gyula Horn gab sich noch in der Wahlnacht Mühe, das zu dementieren. Seine MSZP betrachte den liberalen Bund Freier Demokraten (SZDSZ), aus den Wahlen als zweitstärkste Partei hervorgegangen, als natürlichen Koalitionspartner. Und mit affirmativer Rhetorik spottete Horn dann über jene Angriffe, denen zufolge es sich bei der MSZP um verkappte Kommunisten handele: „Uns wird vorgeworfen, rote Teufel zu sein. Na gut, dann sind wir eben rote Teufel. Und nun wollen wir nicht länger ideologisieren.“

Eine charakteristische Aussage: Die MSZP-Sozialisten haben ihre Existenz kaum je mit Entschuldigungsformeln gerechtfertigt. Die Geschichte der MSZP als Nachfolgepartei beginnt im Oktober 1989 mit der Streichung eines einzigen Buchstabens aus dem alten Parteinamen. Aus der MSZMP wurde MSZP, das M für „Arbeiter“ entfiel. Und noch immer hieß das Ziel: Sozialismus, wenngleich „demokratischer“. Vergangenheitsbewältigung gab es nicht. Ein langjähriges Tauziehen um den Reformkurs der MSZMP ersetzte sie. Durch diesen, meinten die Reformkommunisten, hätten sie sich ausreichend Glaubwürdigkeit erworben.

Doch der Reformprozeß, den die zögerliche MSZP initiiert hatte und an dessen Spitze sie sich zu setzen gedachte, überflügelte sie. Kurz nach dem „Erneuerungsparteitag“ vom Oktober 1989 wurden freie Wahlen beschlossen und die Republik ausgerufen. Zu verdanken war das vor allem der letzten kommunistischen Regierung unter Miklós Németh, die sich von der eigenen Partei abgesetzt hatte.

Mit 8,5 Prozent wurde die MSZP nach den freien Wahlen vom März/April 1990 zu einer kleinen, von anderen Parlamentsfraktionen marginalisierten Oppositionspartei. Zu ihrem Aufstieg zur größten Partei vier Jahre später hat in erster Linie das Votum einer breiten und heterogenen Protestwählerschicht beigetragen, die ebenso sozial Schlechtgestellte wie Unternehmer und Akademiker umfaßt: ein Votum für eine pragmatische, professionelle Politik und ein ausgefeiltes technokratisches Programm. Gleichzeitig hat die Partei in den vergangenen Jahren einen spürbaren Generationswechsel vollzogen, sozialliberale Vorstellungen setzten sich durch, und Ex-Kommunisten, die schon vor 1989 auf eine Westintegration setzten, gewannen an Einfluß.

Dennoch zeigen sich mit dem jetzigen Erfolg verstärkt Konflikte innerhalb der MSZP, die bislang weitgehend parteiintern ausgetragen wurden. Schon letzten Herbst hatte der Autor des sparorientierten, liberalen MSZP-Wirtschaftsprogramms, László Békesi, Schwierigkeiten, seine Vorstellungen durchzusetzen. Seine Kritiker sind vor allem unter ex-kommunistischen Gewerkschaftsführern zu finden, mit denen die MSZP im Wahlkampf eine Allianz eingegangen ist. Sándor Nagy, der alt-neue populistische Vorsitzende des größten ungarischen Gewerkschaftsbundes und Listenzweiter bei der MSZP, hat zwar nach 1989 keinen Klassenkampf propagiert. Reformen müßten nach seiner Meinung aber verlangsamt werden, wenn sie mit sozialen Lasten einhergehen.

Békesi, einer der klügsten Wirtschaftspolitiker im Land, hat bereits zugegeben, daß angesichts seines Programms deutliche Konflikte mit Nagy zu erwarten seien. So könnte die als Wahlkapital und als geschickter Schachzug gemeinte Allianz der MSZP mit den Gewerkschaften am Ende zu einer Fessel werden. Symbolischerweise fehlte Békesi in der Wahlnacht auf dem Podium der MSZP-Führer. Er feiere in seinem Wahlkreis, hieß es lapidar.

Die Gefahr, daß die Sozialisten ihr Reformprogramm nicht durchsetzen können, scheint derzeit um so größer, als die Koalition der Sozialisten mit dem SZDSZ nicht mehr als so sicher gilt wie in den letzten Wochen. SZDSZ-Chef Iván Petö sagte in der Wahlnacht, die absolute Mehrheit der MSZP erschwere die Verhandlungen mit ihr. Es könne nur dann eine Koalition geben, wenn die Freidemokraten eine entscheidende Rolle in ihr spielen würden.

Assoziationen an „Hegemoniekonzepte“ vergangener Zeiten haben bei den Freidemokraten auch die Vorstellungen der MSZP über den Ministerpräsidenten geweckt. Waren die Sozialisten zu den Wahlen noch ohne einen Kandidaten für diesen Posten angetreten, um zu beweisen, daß man in einer Koalition den Kandidaten einer anderen Partei akzeptieren würde, so erklärte Parteichef Horn – mit dem Sieg in der Tasche die Kehrtwende vollziehend –, daß der Posten selbstverständlich dem Wahlsieger zustehe. Auf dem MSZP-Kongreß am kommenden Sonnabend wird er nun voraussichtlich als Kandidat für das Amt des Regierungschefs gewählt werden.

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