Zweierlei Realismus

■ Interview mit Daniel Cohn-Bendit über die französische „Sarajevo-Liste“

taz: Soeben haben sich die Initiatoren der „Sarajevo-Liste“ in Frankreich von der Europawahl zurückgezogen. Angst vor der eigenen Courage? Immerhin stand die Liste nach Umfragen vom letzten Freitag bei 12 Prozent!

Daniel Cohn-Bendit: Die Aktion hatte das Ziel, Bosnien-Herzegowina zu d e m Thema des Wahlkampfs zu machen. Dieses Ziel wurde erreicht.

Es war seitens der Intellektuellen kein Ehrgeiz im Spiel, aufs politische Terrain zu wechseln?

Vor allem der Listenführer Léon Schwartzenberg hat an der Idee Gefallen gefunden, sich jetzt Stimmen abzuholen. Aber die meisten Initiatoren um André Glucksmann wußten, daß es in Frankreich eine lange politische Tradition gibt, nach der solche demonstrativen Aktionen einen starken Anfangserfolg haben, der sich aber dann in einem Wahlergebnis nicht niederschlägt. Hinzu kommt, daß der eigentliche Gegner der Aktion Präsident Francois Mitterrand war, nicht aber Michel Rocard, der die Liste der Sozialisten anführt. Die wäre aber der Hauptleidtragende der Sarajevo-Liste gewesen.

Wie erklärst Du, daß es nur in Frankreich eine solche Initiative gegeben hat und vielleicht nur dort geben konnte?

Das hat mit zwei Faktoren zu tun: mit der Konzentration der politischen Ereignisse auf die Hauptstadt und mit der zentralen Rolle, die die Intellektuellen im öffentlichen Bewußtsein spielen.

Worin liegt der Hauptunterschied in der Haltung der französischen und der deutschen Intellektuellen?

Die französischen Intellektuellen sind quer durch das politische Spektrum fast durchweg für militärische Intervention in Bosnien.

Größere moralische Sensibilität oder größerer Konformismus, größeres Modebewußtsein?

Den Hinweis auf Moden finde ich unsinnig. Es geht nun schon seit den 70er Jahren um eine größere Sensibilität gegenüber dem Totalitarismus. Sie führte konsequent zu den jetzigen, gegen die serbische Aggression gerichteten Positionen. Demgegenüber führten die friedenspolitischen Positionen, wie sie von der Mehrzahl der deutschen Intellektuellen in den letzten 15 Jahren vertreten wurden, konsequenterweise zur Lähmung auch in der bosnischen Frage.

Siehst Du im Fall der französischen Intellektuellen nicht das Problem eines abstrakten und dabei konsequenzlosen Moralismus, während die deutschen Intellektuellen für sich in Anspruch nahmen, pragmatische, verwirklichbare Konzepte zu unterstützen?

Nein, im Fall von Bosnien handelt es sich um zwei Möglichkeiten, realistisch zu sein. Die eine Art Realismus besteht darin, den Serben alles zu geben, was sie sich genommen haben. Die zweite besteht in der Einsicht, daß es ein friedliches, multikulturelles Europa nicht geben wird, wenn man der serbischen Aggression nachgibt. Es geht nicht nur darum, daß die erste Art des Realismus unmoralisch ist, sondern daß sie dem selbstgesetzten Ziel, Frieden in Bosnien zu schaffen, nicht gerecht wird und darüber hinaus die Grundlagen des Friedens in Europa untergräbt.

Worin siehst Du die Erklärung für die unterschiedlichen Reaktionen der Intellektuellen in Frankreich und Deutschland?

Das Engagement der Mehrheit der deutschen Intellektuellen bezieht sich darauf, Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen. Deutschland führte einen barbarischen Vernichtungskrieg, also gilt es, nie wieder in einen Krieg verwickelt zu werden. Gegenüber dieser Aufgabenstellung verblaßte die Einsichtsfähigkeit in den sowjetischen Totalitarismus. Erst kürzlich hat Jürgen Habermas, der große Philosoph, gesagt: Ja, wir haben die Gefahr dieses Totalitarismus unterschätzt. Eine Initiative nach Art der „Sarajevo-Liste“ wäre in Deutschland unmöglich. Interview: C.S.

Daniel Cohn-Bendit, ehemals französischer 68er-Anführer, ist heute Stadtrat für Multikultur in Frankfurt und Kandidat der Bündnisgrünen für das Europaparlament.