Für Taschenrechner und Menschen

■ Kunst gegen Frömmigkeit, Zahlenmystik und Sektierertum: Sammelrückblick auf das Festival „Pro Musica Nova“

Alles war da. Friedlich graste die große Kunst neben dem Brimborium. Gesetzte Musiker sah man plötzlich mit weißgeschminkten Gesichtern äußerst bedeutsam dreinschauen, obwohl es sich doch offenbar um einen Clownskurs handelte, denn gleich kam auch noch ein Pantomime einhergetänzelt, um die Musik von Andreas Salm mit künstlerisch wertvollen Bewegungen zu verdeutlichen. Der Musik war das ganz schön peinlich. Salms „Mandala“ ist ja selber schon kunstpriesterlich genug. Eine Litanei aus einfachen Klangsätzen für Klavier, Kontrabaß, Gitarre, Congas; darunter schon auch belebte, wenn nicht jazznahe Phrasen, aber dann doch immerzu so tadellos schlicht, wenn nicht gottgefällig! Eine Predigt für die Rücckehr zur Einkehr und zum Vollkornklang, kurzum: arm, aber sauber. Überhaupt war die Ambition leider wieder stark vertreten, dicht gefolgt vom Spirituellen und der auskomponierten Zahlenmystik, wie sie der fromme Taschenrechner liebt.

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Immerhin rund 150 Leute eilten in den Radio Bremen-Sendesaal zum Konzert der BremerInnen Oliver Trötschel und Siegrid Ernst. Viele allerdings kamen allein – zur Neuen Musik lassen sich PartnerInnen offenbar nicht so einfach mitschleifen. Dabei war dieses Konzert so ungewöhnlich gar nicht, hangelte sich im Gegenteil an Bewährtem entlang: Der eine, Oliver Trötschel, instrumentierte auf impressionistische Weise den „Urschauer vor der kosmischen Nacht“, die andere, Siegrid Ernst, komponierte mit Rechenschieber und Quintenzirkel.

Drei Gedichte von Rilke, George und Gryphius animierten Oliver Trötschel zu seinen „Drei Gesängen für Sopran und neun Spieler“. Leider waren die Texte weder zu verstehen noch im Programmheft abgedruckt, so daß die Trötschelsche Interpretation der Gedichte so gar nicht zu beurteilen war. Zumal zwar die Spieler recht Unterschiedliches zu spielen hatten, nämlich bei Rilke gleichmäßig zu pochen und zu zirpen, bei George sich als aufgeregte Einzelstimmen zu erheben, die Gesangsstimme jedoch ziemlich gleichbleibend dieser mehr oder weniger chaotischen Instrumental-Welt entgegenschmetterte.

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Emotional wesentlich weniger eingängig und viel kompolizierter gestrickt kam Siegrid Ernsts „Triade“ daher. Man spielte das Stück zweimal, dazwischen erläuterte die Komponistin einige Strukturprinzipien: auf wieviel verschiedenen Ebenen das Prinzip der Zahl 3 auftauchte – ob im Rhythmus oder bei den Intervallen. Das hatte schon ein ganz klein bißchen Festivalcharakter – wenngleich es dazu noch viel mehr der Vorträge, Diskussionsveranstaltungen und sowieso eines Festivalcafés bedurft hätte.

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Aber dann: ein wundervolles Konzert am Sonntag in der Glocke. Und die Nordwestdeutsche Philharmonie unter Klaus Bernbacher allem gewachsen! Der Sieg des Reichtums und der Erfindung über die frenetische Entsagung und das Sektierertum! Erst Klaus Hashagens „Melodie I“, ein immerhin strenges Werk über das Anschwellen, Ausbreiten, Aufspannen von Tönen, die sich fast melodisch auf und nieder schwingen, ohne daß sich ihre Höhe ändern müßte. Da rührte es erst recht, daß Hashagen dieses Wogende, Sirrende, Schwebende wie aus Verlegenheit über seine Schönheit immer wieder von einem penetranten Metallophon zerdengeln ließ.

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Dann aber Erwin Koch-Raphael mit seinem „Abschied von den Farben der Nacht“: Da musiziert ein Solocello vor sich hin wie das schlaflose musikalische Bewußtsein persönlich, während unerhörte Orchesterklänge schwere Schatten werfen, während seltsam schöne Figuren aufscheinen und vergehen. Das ganze Werk ist belebt vom Zauber des Unvermuteten, und selten hat jemand die alte Romanze der Komponisten mit der Nacht zu solcher Komplexität entwickelt. Und erst Peter Ruzickas „Metamorphosen über ein Klangfeld von Joseph Haydn“. Bewegend, wie sich aus den Streichern hohe, singende Klangflächen erheben, wie das alte Haydn-Thema in den Bläsern herüberruft, wie es von den Streichern erschrocken geschnitten und dann doch wieder wehmütig eingesponnen wird: Da kamen sich zwei verfeindete Epochen sehr nah und mußten wieder auseinander, wie es so ist.

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Ganz anders ging es dagegen im Dom zu: „Wer stark klackende Absätze hat, möge bitte auf Zehenspitzen gehen.“ So wurden wir losgeschickt, im Dom zu flanieren und uns die Aufnahmen zu Martin Daskes Live-Hörstück zu erhören respektive zu erlaufen. Sieben SprecherInnen, elf Lautsprecher und die Orgel teilten sich den ganzen Raum und wer versuchte, so etwas wie ein Gesamtwerk zu erlauschen, war hoffnungslos verloren. Stimmengewirr und Satzfetzen gaben uns die gegeneinander- und übereinanderredenden SprecherInnen mit auf den Weg, Worte wie „Agentenaktion“ und „Beleg Nummer 146“ ließen uns gewisse Berührungspunkte zum Titel der Veranstaltung, der Bibelschmugglertheorie erahnen. Glücklich, wer da loslassen und sich dem Dom-Hall, dem Orgel-Getröte und dem Meeresrauschen und Vogelgekrächze aus der einen oder anderen Lautsprecherbox hingeben konnte. Oder der Orgel, der einzigen, die an diesem Abend Musik sprich Sendesuchlaute oder ähnliches von sich gab.

Zwischendurch mochte man aber auch ganz gern davonlaufen – und konnte es. Zwei verliefen sich in die Krypta, einer erstieg die Orgelempore und eine weitere Zuhörerin studierte einstweilen das Brett mit den Gebetstextezetteln.

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Sanft stimmte das Kölner „Auryn-Quartett“ im ersten Durchlauf zu Detlef Heusingers Video-Oper Pandora auf ein ungewöhnliches Joint-Venture ein. Die vier Streicher positionierten sich inmitten von drei mal drei noch leeren Bildschirmen. Und begannen in einer Mischung aus avantgardistischem Tongetröpfel und archaischen Klangbauten zu erzählen von den mythenumrankten Frauengestalten Pandora und Eva. Ein unablässiger Stimmungswechsel, der schon da den Flair von Filmmusik erhielt, die oft nur noch die Aufgabe hat, Spannung zu erzeugen. Obwohl doch die Mattscheiben noch milchig waren und genügend Freiraum für die eigenen visuellen Assoziationen gelassen hätten.

Als dann Heusinger in der Wiederholung noch seine Videobilder in den Kirchenraum warf, nahmen wir die Streicher fast nur noch als musikalische Begleiterscheinung wahr. Der optische Reiz war eben auch hier stärker. Und Detlef Heusinger stoch außerdem Augen gegen Ohren aus, indem er die neun Bildschirme mit rasant flottierenden Einstellungen und Bildsequenzen überflutete.Kriegs- und Vergewaltigungsszenen aus Kroatien sollten laut Heusinger das Stigma des Weiblichen in Eva und Pandora aktualisieren. Gegen Voyeurismus und erotisierendes Fast-Food wollte er angehen, schaffte aber durch permanenten Zeitraffer und kurzatmige Frauenaktstudien nur den Sprung zum Fast-Movement. cis/ schak / sip