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Unter dem Berlusconi-Mond

Ein Kongreß in Amalfi versuchte sich an einer „Agenda der europäischen Soziologie“  ■ Von Jörg Lau

Schwierige Hausaufgaben: Das Komitee des „Premio Europeo Amalfi für Soziologie und Sozialwissenschaften“ hatte den geladenen Forschern diesmal nichts weniger aufgetragen als eine „Agenda der europäischen Soziologie“. Ganz schön leichtfertig, Professoren durch eine derart allgemeine Aufgabe zur Selbstdarstellung förmlich zu ermutigen. Schließlich kommt ja noch das Problem hinzu, daß die Soziologie ihrem Selbstverständnis nach nicht ein irgendwie begrenzbares Feld bearbeitet. Wie soll sich bloß diese Wissenschaft, der alles zum Gegenstand werden kann und die darum eigentlich gegenstandlos ist, auf eine Agenda einigen können?

Nun, die Organisatoren des „European Amalfi Meeting“ hatten vorsichtshalber einen Hinweis in das Veranstaltungsprogramm eingebaut: Im Anschluß an die Hauptvorträge der Tagung stand ein „Round Table“ zum Thema „Lokale Kulturen und Migration in Europa“ auf der Tagesordnung. Das ist ein wenig dröge formuliert, weist aber doch auf den Kern der Lage, auf das Thema, das heute in Europa und anderswo die größten Leidenschaften weckt: das Zusammentreffen von Einheimischen und Einwanderern. Allzu viel Neues kam am Ende nicht dabei zutage, aber das ist auch nicht so wichtig. In Amalfi wird nicht eigentlich an Themen gearbeitet; hier werden sie gesetzt. Im nächsten Jahr wird das deutsche Publikum bei einigen Hamburger Veranstaltungen prüfen können, was die Amalfi-Gruppe will. Dank Jan- Philipp Reemtsmas Unterstützung wird man nach zweijähriger Pause wieder einen Preisträger nominieren können, der in schmeichelhafter Linie mit Größen wie Norbert Elias (1987) und Zygmunt Bauman (1989) stehen wird. Eine Pressekonferenz, gefolgt von öffentlichen Vorträgen über die „Transformation des Politischen“, wird in Hamburg stattfinden.

Manch einer hält sich doch lieber geduckt im Windschatten alter Konstellationen. Salvador Giner von der Universität Barcelona gab mit großem Charme den Reaktionär: Die Soziologie, mit dem Ziel angetreten, die „Wesenheiten“ der Geisteswissenschaften in Relationen aufzulösen, müsse ihren Sieg zur Kenntnis nehmen und nun, da die Gesellschaft selber ihre Zersetzungsarbeit gründlicher besorge als sie es je gekonnt und gewollt habe, die Notbremse ziehen. Jetzt stehe die Suche nach dem Common good an; die Soziologie müsse politisch werden, „aristotelisch“.

Woher ausgerechnet die Soziologie, die schon einer ihrer Klassiker, Georg Simmel, einen Ausdruck des „modernen Relativismus“ nannte, Kompetenz zu solchem Wert-Absolutismus haben soll, blieb naturgemäß unklar.

Der Pariser Soziologe Michel Maffesoli (Sorbonne) stellte das Gegenbild zu diesem ängstlichen Neokonservatismus: „Ich“, sagt er mit verwegenem Blick, „ich habe vor gar nichts Angst. Außer vor Intellektuellen, die Angst haben.“ Das können sich die versammelten Kolleginnen und Kollegen nicht bieten lassen. Einer repliziert: Er würde in der gegenwärtigen Lage eher ein Lob der Furcht schreiben wollen als der Courage. Der forsche Kollege nennt das, wenig schmeichelhaft für seinen Vorredner, „Ressentiment gegenüber dem Leben“.

Starke Töne, wenn auch geliehene. Maffesoli, offenbar immer noch im Rausch verspäteter Nietzsche- Lektüre, fordert eine Soziologie, die „die Dinge nicht mehr von oben herab behandelt“. Ob er bemerkt hat, daß es ein wenig peinlich wirkt, wenn man in einem exklusiven Hotel hoch an einer Felswand über dem Ferienort Amalfi ein „Denken in Augenhöhe mit seinen Objekten“ fordert? Nein, offenbar nicht, denn er ging noch weiter: Er wünsche eine Soziologie, die „die Dinge begleitet“, mehr noch, eine „romantische“, eine „zärtliche Soziologie“.

Mancher fand diesen Auftritt als Provokation des soziologischen Common sense verteidigenswert. Arme Soziologie, wenn sie sich von der schneidigen Werbung für intellektuelle Anschmiegsamkeit provozieren läßt.

Haben wir denn keine anderen Probleme? Anthony Giddens aus Cambridge zeigte als einziger die nervöse Neugier, wie sie dem Schreiben einer Agenda angemessen ist. Wertkonservative Wallungen sind seine Sache nicht und auch nicht die schon ein wenig angegangenen intellektuellen Frivolitäten der achtziger Jahre. Endlich Themen, Issues, Topics! Wenn auch keineswegs auf Augenhöhe präsentiert (aber wer sagt denn, daß man da besonders gut sieht): Die Globalisierung der Probleme (Umwelt, Migration) und der Kommunikation über sie; die Erosion der Tradition und ihre Wiedererrichtung in den Fundamentalismen; die Auflösung von sex in gender und die Potenzierung ethnischer Gewalt durch sexuelle (Massenvergewaltigungen in Ex-Jugoslawien); die neue Dialektik der Aufklärung, die das kommunikationstheoretische Paradigma der Sozialwissenschaften beschert: Der Umlauf von immer mehr Information produziert keine sichere, sondern eine immer komplexere, unvorhersehbarere Welt. Die Soziologie in ihrer klassischen Form, so schrieb Giddens den Kollegen ins Stammbuch, die angesichts dieser Lage die „Lektüre der Klassiker“ empfehlen, ist tot. Kaum Einsprüche, was allerdings auch nicht nötig war, denn Giddens brillante, völlig frei gehaltene Rede war selbst schon ein sehr wirkungsvoller.

Keine Gesprächsrunde in diesem traumhaften Spätfrühling unter prallen Zitronen kam ohne einen Witz über das neue Italien aus. „Wie geht's“, begrüßte man sich, „wie lebt sich's so im Land der Neuen Rechten?“ Gequältes Grinsen. Anthony Giddens bekannte, er habe schwören mögen, der Mond über Amalfi sei „virtual reality created by Berlusconi“. Ausgelassene Heiterkeit bei den italienischen Kollegen.

Am folgenden Tag kann man im Corriere della Sera von einem Interview des Präsidenten mit der Washington Post lesen. Mussolini, so Berlusconi, habe „eine bestimmte Zeitlang gute Dinge vollbracht“, und das sei „eine bewiesene Tatsache der Geschichte“.

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