Kolumbiens Politiker im Drogenrausch

Die Legalisierung des Drogenkonsums durch Kolumbiens Verfassungsgericht schlägt im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen hohe Wellen / „Freie Entfaltung der Persönlichkeit“  ■ Von Ralf Leonhard

Bogotá (taz) – Die „persönliche Dosis“ ist in Kolumbien zum geflügelten Wort geworden, seit der Verfassungsgerichtshof am 6. Mai in einem umstrittenen Urteil den Besitz und Konsum geringer Mengen von Drogen, eben der persönlichen Dosis, entkriminalisiert hat. Fünf von neun Richtern fanden, daß die Bestrafung des Drogenbesitzes gegen das in der Verfassung garantierte „Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit“ verstößt. Die restlichen vier Richter stimmten dagegen mit dem Argument, daß der Schutz der Familie Vorrang habe, und meinten ferner, nun könne Kolumbien nicht mehr von den USA die Bekämpfung des Drogenkonsums verlangen.

Das Thema ist selbstverständlich auch prominent im Wahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen, deren erster Durchgang am Sonntag stattfand und die am 19. Juni per Stichwahl abgeschlossen werden sollen. Ähnlich wie im Hohen Gericht geht eine Spaltung in dieser Frage quer durch die Gesellschaft. Noch-Präsident Cesar Gaviria gab sich schockiert von dem Urteil, das er „zwar befolge, aber nicht billige“, und dachte sofort über Möglichkeiten nach, die Entscheidung auf verfassungskonformem Wege wieder zu umgehen – beispielsweise durch Verbote in Schulen, Universitäten und öffentlichen Plätzen oder durch eine Volksbefragung. Die beiden Spitzenkandidaten für die Präsidentschaft, Ernesto Samper und Andres Pastrana, organisierten sofort Protestdemonstrationen vor dem Gebäude des Verfassungsgerichtshofes, das inzwischen evakuiert worden war, nachdem – sichtlich infolge mangelnder Zielgenauigkeit der göttlichen Gerechtigkeit – ein nahegelegener Neubau von der Erde verschluckt worden war. Samper, der nach dem ersten Wahlgang vorne liegende Kandidat der Liberalen Partei, hatte sich selber vor 20 Jahren noch vehement für die Legalisierung des Drogenhandels stark gemacht – „doch damals“, behauptet er heute, „handelte es sich um ein folkloristisches Problem in der Sierra Nevada“, wo die Schwarzen der Karibikküste und die Hippies Marihuana anbauten.

Elternverbände, Schuldirektoren, kirchliche Organismen und Unternehmervereinigungen, die Kolumbiens Schulen bereits in Refugien für rauchende, schnupfende und spritzende Jugendliche verwandelt sahen, schickten Protestschreiben, bevor noch die Details der höchstrichterlichen Entscheidung bekannt waren. Und Hysteriker wie General Maza Marquez, der ehemalige Chef des militärischen Geheimdienstes, erklärten das Urteil schlicht „zur schlimmsten Sache, die Kolumbien in seiner Geschichte widerfahren ist“.

Der umstrittene Spruch erlaubt allen Volljährigen den Besitz von 20 Gramm Marihuana, fünf Gramm Haschisch, einem Gramm Kokain oder zwei Gramm Metacualon. Er betrifft weder die Strafbarkeit der Produktion noch des Transports und Verkaufs von Rauschmitteln. Aber schon bisher wurde in Kolumbien kaum einer, der mit einem Joint angetroffen wurde, tatsächlich bestraft. Kokain kann man an jeder Ecke erwerben oder telefonisch bestellen. Gesundheitsminister Juan Luis Londoño begrüßt die voraussehbare Reduzierung des mit der Drogenrepression verbundenen Konfliktpotentials, befürchtet aber gleichzeitig eine Zunahme des Konsums. Zwischen 1987 und 1992 hat sich der Prokopfverbrauch von Drogen in Kolumbien stabilisiert. Offizielle Schätzungen sprechen von 300.000 Süchtigen und 586.000 Konsumenten, darunter nur 6.000 Heroinabhängige, aber 363.000 Marihuanaraucher.

Kolumbien ist nicht das erste Land Lateinamerikas, das auf die Bestrafung von Drogenkonsumenten verzichtet. In Peru und Uruguay haben Süchtige nicht mehr mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen. In Chile und Venezuela müssen sich Junkies oder Kokainschnupfer einer ärztlichen Behandlung unterziehen; Ausländer werden abgeschoben. Auch in Spanien ist die Einnahme der „persönlichen Dosis“ seit elf Jahren legal.

Daß die USA sich als Moralapostel zu Wort melden würden, kam trotzdem nicht überraschend. Lee Brown, Direktor des Büros für Drogenpolitik im Weißen Haus, sprach von einer „Ohrfeige für die kolumbianischen Staatsbürger“. Aber die Befürworter der Entscheidung in Kolumbien sagen, daß Nichtbestrafung von Süchtigen nicht mit Nachsicht gegenüber der Drogenmafia gleichzusetzen ist. In den elf Staaten der USA, wo die „persönliche Dosis“ schon straffrei ist, sei weder der Drogenkonsum noch die Gewalt angestiegen, schreibt die Kolumnistin Maria Jimena Duzan in der Tageszeitung El Espectador, „nur die Gefängnisse sind weniger voll“.

Das Urteil hinterläßt dennoch auch bei den Befürwortern einer flexibleren Drogenpolitik einen bitteren Nachgeschmack. Zwar ist es nicht mehr verboten, kleine Mengen halluzinogener Substanzen zu besitzen, doch kann man sie ja nicht besitzen, wenn man sich nicht vorher der kriminellen Handlung des Drogenkaufes schuldig gemacht hat. Für die Drogenhändler ist dies, wie Generalstaatsanwalt Gustavo de Greiff meint, „die beste aller Welten“.