Im Gedärm von Paris

■ Der Großstadtsüchtige Paul Nizon las aus seinem neuen Roman

Für den französischen Schriftsteller Paul Nizon hat die Stadt „immer etwas mit Fahren und Gehen zu tun“. Flanierend taucht er ein in das „Gedärm der Stadt“, fährt mit dem Stadtbus oder mit der Metro durch Paris. Greift dabei Gerochenes, Gehörtes, Gesehenes auf und läßt es mit Tagträumen, Erinnerungen und Imgaginärem zusammenfließen. So entsteht eine poetische Innenansicht städtischen Treibens, bei der die erzählerische Ich-Figur zu einem Bestandteil des urbanen Organismus wird.

„Ich bin die Straße selbst“, heißt es bezeichnenderweise in einer Textstelle seines Bandes „Im Jahr der Liebe“. Hieraus und aus seinem neuen Buch, „Das Auge des Kuriers“, las der Großstadtsüchtige am Dienstag abend im Literaturhaus. Nizon bedient sich in seinen Texten einer, wie er sagt, „Existenzpartitur“, die in der französischen Tradition existentieller Literatur ihre Wurzeln findet. Versatzstücke, gedankliche Einwürfe, visuelle Ausflüchte, alles ist in seiner Prosa in einem unaufhaltsamen Fluß.

Die Metrostationen fliegen dahin, die Blicke wandern nach draußen und hinüber zu den Mitfahrenden: „Bartstachelige Gesichter. Sie stehen da, unterhalten sich pausenlos und schwanken hin und her“. Bilder und Sinne vermengen sich, die Realität verschwimmt, erotische Phantasien flackern auf, „Stöckelschuhstakkato“, verselbständigen sich und münden in heftigen Intermezzi, „ich warf mich auf die Riesin, hörte noch Stimmen wie 'nicht so schnell'“.

Nizon öffnet die Augen für das Unsichtbare und doch gedanklich Gegenwärtige, verzichtet aber auf den explizit soziologischen Blick städtischen Alltags und fokussiert seine Aufmerksamkeit auf die sinnlichen Begegnungen in den „tiefen Schluchten“ der Großstadt. Wobei er sich an starren Rekonstruktionen erlebter Momente nicht festklammert, sondern an bestimmten Stellen einen fiktionalen Drift zuläßt. Ein schreibender Urbomane, der ohne Stadt „verelendet“, sich fühlt „wie ein ausgepreßter Falter“.

Dierk Jensen