Überlebenschancen „fünfzig zu fünfzig“

Am Abend des 6. Juni 1944 hatten amerikanische Truppen einen drei Kilometer breiten Strandstreifen in der Normandie erobert – weitaus weniger, als bei der „Operation Overlord“ geplant war  ■ Von Reinhard Wolff

Es macht ihn irgendwie nervös, daß jetzt plötzlich alle Welt wissen will, was er an diesem Tag erlebt hat. Nicht, daß sein Erinnerungsvermögen getrübt wäre. „So etwas vergißt man sein Leben lang nicht mehr.“ Aber wenn er den Horror der Morgenstunden des 6. Juni 1944 beschreiben soll, dann kommen ihm manchmal die Tränen. Und das will er nicht.

Dabei hat sich Frank Bowen auf diesen Jahrestag gut vorbereitet. Zusammen mit Veteranen der 29. Infanteriedivision der US-Armee wird er zum ersten Mal nach fünfzig Jahren wieder in die französische Normandie zurückkehren – an jenen Strandabschnitt an der Atlantikküste zwischen Port-en- Bessin und Vierville-sur-Mer, den die Strategen der alliierten Landung „Omaha Beach“ getauft hatten. Hier wurden am 6. Juni 1944 gegen zehn Uhr morgens Captain Bowen, damals 31 Jahre alt, und seine C-Kompanie des 115. Regiments von einem Amphibienfahrzeug hundert Meter vom Strand entfernt abgesetzt. Manche waren bereits seekrank, andere hatten die Pillen gegen Seekrankheit lethargisch gemacht. Manche beteten, andere fluchten, und „alle wußten, daß viele von uns die nächsten Stunden nicht überleben würden“. Als kommandierender Offizier ging er als erster von Bord und bezifferte seine Überlebenschancen mit „fünfzig zu fünfzig“. Er versank bis zum Hals im Wasser. Wenige Sekunden später wurde der Soldat neben ihm von Maschinengewehrfeuer getroffen.

Die ersten Einheiten waren bereits um 6.36 Uhr am „Omaha Beach“ gelandet – und ebenso wie Bowens Soldaten dem deutschen Artilleriebeschuß schutzlos ausgeliefert. Das Wasser war rötlich gefärbt. Überall schwammen Leichen oder einzelne Körperteile von Soldaten, die von Granaten zerfetzt worden waren. Verwundete schrien um Hilfe und versuchten, zu einer der Fähren zurückzuschwimmen. Die schwere Ausrüstung zog viele unter Wasser.

Knapp fünfhundert Meter vom Fuß der Felsen entfernt, auf denen sich die deutschen Verteidigungsstellungen befanden, kam Bowen überhaupt dazu, einige seiner Männer zusammenzuholen. „Dann kam dieses Geräusch, wir warfen uns alle in den Dreck, und einen halben Meter entfernt explodierte diese Granate.“ Wie durch ein Wunder trug Bowen nichts weiter davon als eine riesige Beule in seinem Helm. Sein Sergeant lag tot neben ihm, einen Soldaten hatte es in zwei Stücke gerissen, ein dritter lag mit einem Splitter zwischen den Augen daneben. Dann gibt es noch die scheinbar unwichtigen Bilder, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt haben: der Anblick von toten Kühen in den Dörfern; Soldaten, die beim Marschieren einschliefen.

Erst im nachhinein erfuhr Bowen, daß die alliierte Landung „Operation Overlord“ mit zahlreichen Fehlschlägen begonnen hatte. Die 13.000 Fallschirmspringer, die in der Nacht zum 6. Juni hinter den deutschen Linien landen sollten, waren zum Teil weit von ihren Positionen abgedriftet. Kampfflugzeuge, die an den Stränden Bombenkrater zum Schutz der Landungstruppen schaffen sollten, hatten ihre Bomben viel zu weit im Landesinneren abgeworfen.

Am Ende des 6. Juni hatten amerikanische Truppen einen drei Kilometer breiten und zehn Kilometer langen Strandstreifen erobert – weitaus weniger, als für diesen ersten Tag der Invasion geplant war. 175.000 Soldaten der Alliierten waren gelandet. Mindestens 2.500 alliierte Soldaten kamen in diesen ersten 24 Stunden der Landung ums Leben; die meisten wurden am „Omaha Beach“ getötet, wo die Stellungen der Wehrmacht am stärksten waren; die Zahl der toten deutschen Soldaten wird auf 4.000 bis 8.000 geschätzt. In den folgenden 80 Tagen des alliierten Vormarsches starben 637.000 Menschen. Den Leichengestank in den Feldern konnten an manchen Tagen die Bomberpiloten in ihren Flugzeugen riechen. Frank Bowen wurde am 12. Juni durch Maschinengewehrfeuer an Kopf und Fuß verletzt und nach Großbritannien geflogen. Für ihn war der Zweite Weltkrieg sechs Tage nach D-Day zu Ende.

Mehrere tausend US-Veteranen des Zweiten Weltkriegs werden fünfzig Jahre nach D-Day in die Normandie zurückkehren, um dort an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Der Konflikt um die Präsenz des deutschen Kanzlers berührt sie nur am Rande. „Viel mehr Diskussionsstoff bietet das zwiespältige Verhältnis vieler Veteranen zum Staats- und Regierungsoberhaupt ihres Landes, das sie nach Frankreich begleiten wird. Bill Clinton mußte sich erst letzten Montag, als er anläßlich des „Memorial Day“ vor allem der Gefallenen des Zweiten Weltkriegs gedachte, vor auserlesenem Publikum auf dem „Arlington National Cemetery“ Zwischenrufe wie „Verräter“ und „Drückeberger“ gefallen lassen – Anspielungen auf den Umstand, daß Clinton seinerzeit zu verhindern wußte, in die Armee und zum Einsatz in Vietnam eingezogen zu werden.

„D-Day“ ist anläßlich der Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag zum Synonym für einen moralisch gerechten Krieg unter amerikanischer „Führung“ geworden. Eben diese spricht man Bill Clinton mit seiner Außenpolitik ab. Wieviel dieser Mangel mit den politischen Strukturen einer neuen Weltunordnung oder der Unfähigkeit des Präsidenten zu tun hat, ist eine Frage, die zu klären derzeit nur wenige interessiert. Frank Bowen läßt sich Loyalität zum Oberkommandierenden der US-Streitkräfte nur mühsam abringen. „Er ist unser Präsident“, sagt er lakonisch, „ich wünsche ihm Glück.“