Der Umweltgipfel von Milwaukee

Amerikanischer Nihilismus – aber mit Humor: Die Violent Femmes und ihre Sicht auf die neuen Zeiten  ■ Von Thomas Groß

Die Band fürs Grundsätzliche: Warum singen Vögel? Magst du amerikanische Musik? Was wird aus meinen Schiffen, wenn sie den Hafen hinaussegeln? Werde ich im Winter den Verstand verlieren? – Kardinalfragen, die zugegebenermaßen etwas abseits der unmittelbaren kommunikativen Vernunft liegen, aus denen Gordon Gano von den Violent Femmes aber nicht ohne Hartnäckigkeit Songzeilen oder sogar ganze Albumtitel macht. Seit mehr als zehn Jahren jetzt schon.

Zierlich ist der Mann, weit mehr, als auf Fotos zu erkennen. Und so sophisticated an der Oberfläche. Vielleicht wird man ja wirklich so, wenn man in der Schule der Kleinste war und deswegen gehänselt wurde. Vorstellen kann man es sich schon: daß es solch simple Dinge sind, die einen Typ wie Gano eines Tages auf die Idee bringen, eine Band namens Violent Femmes (etwa: die gewalttätigen Memmen) zu gründen und mit dieser selbstgebastelten kleinen Würde zurückzuschlagen.

Irgendwann ist man dann zwar nicht mehr der Miniatur-Exzentriker auf einem Schulhof in Milwaukee, aber der böse Blick – etwas hintergründiger vielleicht und ironisch gebrochen – ist geblieben. Und damit wäre schon leichter zu verstehen, warum die Violent Femmes in den Jahren ihres Bestehens allen Sound- und Ideologiefallen der Popwelt mit leicht knurriger Grazie ausgewichen sind, weshalb sie nie ganz weg, aber auch nie so weit da waren, daß man befürchten mußte, die Band an kommerzieller Überpräsenz oder medialer Umarmung ersticken zu sehen.

Eher ging das so seinen milwaukeeschen Gang. Sechs Alben in zehn Jahren, und leicht erstaunt nehmen Gordon Gano, Brian Ritchie und der neue Schlagzeuger Guy Hoffmann zur Kenntnis, daß die Femmes nicht nur in deutschen Fanzirkeln immer noch mehr als wohlgelitten sind, daß vielmehr sogar jüngere US-Alternative wie REM oder Liz Phair sie als maßgeblichen Einfluß nennen – „really“? Das ist ja noch gar nicht zu ihnen durchgedrungen. Oh Herr, Amerika muß immer noch groß sein.

So groß jedenfalls, daß der Vorrat an zu plündernden Folk- und Blues-Partikeln unerschöpflich ist. Auf „New Times“, dem neuen Album, inszenieren sich die Violent Femmes wie gewohnt als Gottes eigene Straßenmusiker, flicken weiter am großen Patchwork amerikanischer Traditionen – bis auf zwei Stücke. Deren Texte stammen nun überraschenderweise vom Dadaisten und Räterepublikaner Walter Mehring. Was bringt eine Band wie die Femmes ins Berlin des Jahrhundertanfangs?

Da da da

Gano legt versonnen das Taschenbuch mit Rilkes „Duineser Elegien“ beiseite, mit dem er aussah wie ein feinsinniger amerikanischer Literaturstudent: „Es war so, daß ein befreundeter Regisseur mir mal eine englische Übersetzung von Mehrings Lyrik-Band ,Einfach Klassisch‘ gegeben hat. Wir hatten uns im Rahmen eines gemeinsamen Projekts über Sprache und Bilder unterhalten, mit denen wir etwas anfangen konnten. Und Mehring gefiel mir auf Anhieb, so daß sich Teile der gemeinsamen Arbeit veränderten und plötzlich Songs draus wurden. Die habe ich an einem Abend in der New Yorker Knitting Factory vorgestellt, und dann dachte ich, das müßte doch auch gut mit den Femmes funktionieren. So kam's dann halt“.

Und prompt ist dann auch in der Musik dieser Brecht/Weill-Einfluß drin, der schon vor Jahrzehnten Bands wie die Doors heimgesucht hat – „Oh show me the way to the next whiskey bar ...“ Ist es der alte Ami-Kniefall vor den europäischen Avantgarden?

„Nun, wir wollten unseren Aktionsradius erweitern, und das schon seit längerem. Wahrscheinlich kommt es erst jetzt richtig durch. Außerdem ist es so, daß mein Vater damals bei der amerikanischen Uraufführung der ,Dreigroschenoper‘ mitgemacht hat, zwar nur in einer der Nebenrollen, aber so bin ich eben mit der Musik aufgewachsen. Meine ältere Schwester ist auch großer Brecht- Fan und hatte Sachen auf Band, die es im Laden gar nicht gab. Und da war außerdem dieser Regisseur, Eric Bentley, der viel mit Brecht- Stücken gearbeitet hat, als einer der ersten in den Vereinigten Staaten, und das hat mich eben alles sehr fasziniert.“

Okay, Faszination – schön und gut, aber denkt man sich nicht auch was dabei? Ich meine, Dada war doch immerhin Antikunst und wollte an der bürgerlichen Gesellschaft was drehen ...

Doch das ist Gano schon wieder ein bißchen zu europäisch, zu ideologielastig, und Bassist Brian Ritchie prescht von der Seite mit dem Statement ins Mikrophon: „Wir sind keine Kommunisten, falls du das meinst!“

„Kommunist“ sein – das ist in der inneren Emigration dissidenten US-Rock-'n'-Rollertums offenbar noch weniger eine Alternative als beim größten Teil der Ex- DDR-Jugend. Und zwar noch nicht einmal so sehr aus einem subkulturellen Reflex uramerikanischer Phobien heraus, sondern aus purem Pragmatismus: weil es sowieso nichts nützt. „Wenn du deine Energien auf was verschwenden willst, was in den USA niemals eine Chance auf Verwirklichung hat, dann glaub' an soziale Veränderung“, stellt Ritchie dröhnend klar.

Island Life

Tatsächlich ist „New Times“ eine der deprimierendsten, weil illusionslosesten Platten, die ich in der letzten Zeit gehört habe – und das will etwas heißen in Zeiten, in denen David Byrne sich auf seine alten Tage als grübelnder Autobiograph entpuppt und selbst Bruce Springsteen nur noch durch trostlose Vorstädte pilgert. Fast sieht es so aus, als sei der Rock'n'Roll unter Clinton noch trostloser geworden als unter eindeutig reaktionärer Herrschaft.

Femmes-Songs jedenfalls starten energisch durch, um dann gegen Ende doch immer scheppernd auseinanderzufallen wie verrostete Straßenkreuzer, die nur noch das Autoradio zusammengehalten hat. Sie handeln zumeist vom Saufen, das nicht schmeckt, von der Zeit, die nichts heilt, und vom „Island Life“, dem totalen, aber nicht mehr poetisch verklärbaren Rückzug aus allem. Dann ein Songtitel wie „I'm nothing“, der mit den Zeilen endet „I'm nothing now and I'll be nothing when/This nothing world has it's nothing end“. Ich meine, that's pretty nihilistic, isn't it?

„Wirklich, hahaha? Na, das ist das erste, was ich in der Richtung höre“, ist Ganos sarkastische Antwort.

Doch, es erinnert mich sogar ein bißchen an „I Hate Myself And I Want To Die“, den unterdrückten letzten Albumtitel eines Mannes, dessen Nachname mit „C“ anfängt und mit „obain“ aufhört.

„Oho! Na, ich habe keine Pläne in der Richtung, mich umzubringen. Aber im Ernst: Die Lyrics sind natürlich schon etwas depressiv, wie übrigens auf allen unseren Platten. Aber wenn ich solche Sachen schreibe, ist in all diesem Blues-Zeug immer auch etwas drin, das einen über solche Stimmungen erhebt. Schreiben, das erleichtert. In unseren Sachen steckt ein gewisser Humor, und das siehst du übrigens schon daran, daß nach dem Bekenntnis, ,nothing‘ zu sein, noch so eine kleine Coda drangehängt ist, in der ich die Zeile im Stakkato wiederhole. Das ist ja alles auch eine Art, mit den Wörtern zu spielen.“

Jailhouse Rock

Das alte Katharsis-Modell also. Aber auch ein Weg, sich vom Mythos der unmittelbaren Einheit von Leben und Song, der Authentizitätsfalle des traditionellen Rock'n'Rolls zu befreien, derzufolge man auszubrennen hat, statt weise und „literarisch“ zu werden. „Key Of 2“ heißt ein Song auf dem neuen Album, und er handelt von einer Jailhouse-Band, die immer nur dumpfen Jailhouse-Rock spielt, jeden Donnerstag abend dasselbe Lied im großen Rock-'n'- Roll-Knast, bis der Sänger eines Tages den „Key Of 2“ entdeckt, so daß jetzt alles rockt „like Elvis never knew“. Wäre es eventuell in Ihrem Sinne, hier von einer Anwendung des uneigentlichen Sprechens im Rock'n'Roll zu sprechen, Herr Gano? Amerikanische Musik, (teilweise) europäischer Text?

„Nun, haha, zunächst mal ist der Song einfach nur ein Traumprotokoll. Hingeschrieben eines Morgens, einfach so, haha. Aber wenn ich so drüber nachdenke ... Vielleicht hast du ja recht. Bekanntlich – ein kluger Mann hat das rausgefunden – steckt in einem Text ja nicht nur die Absicht des Autors, und so könnte es sein, daß ... also ich werde darüber nachdenken.“

Wer es noch nicht gemerkt haben sollte: Gordon Gano ist ein ziemlich sympathisches Exemplar von arrogantem Sack. Nicht ohne Vergnügen läßt er das Sinnbedürfnis interessiert fragender Rockjournalisten an sich abperlen, leimt sie ein bißchen, um dann wieder in tiefem, fast obszön tiefem Ernst zu antworten: Doch, „Jesus Of Rio“, das Stück, das die Band für „Greenpeace“ geschrieben hat, sei schon ein „sehr politisches Stück“, da habe ich vollkommen recht.

Dabei ist gerade dieser 13. und letzte Titel von „New Times“ alles andere als eine flache Agit- Hymne. Zu sparsamer Harmonium-Begleitung wird die überdimensionale Christus-Statue besungen, die über Rio de Janeiro thront, Hunderte von Metern über dem Umweltgipfel, auf dem gerade mal wieder das Ende der Fortschrittsgesellschaft konstatiert worden ist und die Ausbeutung der „armen Länder“.

Und während man noch verstehen will, wie das gemeint ist – vielleicht depressiv? oder humorvoll? –, kippt die Szene in eine Kopenhagener Rotlichtbar um, in der jemand mit einer Nutte aus Rio die Welt zu retten versucht – ergebnislos, wie man sich denken kann.

Ein Song ohne Handlungsanweisung, ohne Message, ohne wirkliche Pointe – und gerade dadurch eines der aktuellsten Statements, die der Band-, Denk- und Beziehungshintergrund US-amerikanischer Rock-Schwächlinge zu bieten hat. „What Made Milwaukee Famous, Has Made A Loser Out Of Me“ ist der Titel eines traditionellen Lieds – „Jesus Of Rio“ ist ein Paß- und Gegenstück dazu. Zusammen mit den anderen bildet es eine rücksichtslose „private“ Diagnose der Verhältnisse, eine Art poetischen Umweltgipfel von Milwaukee, geschrieben für Amerika wie den Rest der Welt.

Das amüsiert Gano nun wieder. „Isn't it a lot like Brecht“, witzelt er, „der hatte doch auch immer diesen dialektischen Dreh drin“. Also ich werde darüber nachdenken.

Violent Femmes: „New Times“ (Elektra/WEA)