Euer kleiner Todesengel

Ist er so? Oder tut er nur so? Ex-Talking Head David Byrne mit neuem Album und neuem Image  ■ Von Jörg Feyer

Mai 1994: David Byrne – ganz in schlichtes Schwarz gehüllt, die Haare heuer schulterlang – hockt im Konferenzraum einer Hamburger Nobelabsteige und versichert jedem, der es wissen will, daß sein neues, „David Byrne“ betiteltes Album ganz gewiß sein „persönlichstes“ sei, daß „Buck Naked“ als durchaus programmatischer Ausgangspunkt ein Song sei, der durch den Aids-Tod seiner Schwägerin motiviert wurde, ja, daß bei der Arbeit am Album gelegentlich sogar (seine) Tränen flossen, wenn ihn einige Songs „so bewegt haben, wie mich die Platten anderer bewegt haben“.

Frühjahr 1974. David Byrne liegt stundenlang starr wie eine Mumie auf seiner Matratze in einem bescheidenen New Yorker Loft an der Bond Street. Der 22jährige Konzept-Kunst-Freak macht in Depression, ist unfähig, eine Beziehung zur Außenwelt herzustellen, sie gar kontrollieren zu können, während um ihn herum beherzt Karrieren angepackt werden – so jedenfalls will es die Legende. Allein seiner damaligen Freundin Andrea Kovacz soll er sich anvertraut haben. Er wolle, so Byrne, eine künstliche Persönlichkeit kreieren, hinter der er selbst völlig anonym bleiben könnte, am besten als Systemanalytiker im Computerbereich. Kovacz redet ihm den Quatsch aus und gibt Byrne kurz darauf ziemlich unsanft den Laufpaß.

Kein Jahr später sind die Talking Heads, nach einer Titelstory in der Village Voice, der „Talk Of The Town“ – als intellektuelle, „europäisch“-distinguierte Antithese zu den uramerikanischen Pizza'n'Coke-Heads The Ramones. Doch der Minimalismus, die „Künstlichkeit“ und der Antitraditionalismus – Haltungen, die beide Bands (trotz aller Gegensätze) verbindet, eint auch die Fan-Crowd, die regelmäßig das CBGB's auf der Bowery füllt, wenn die ungleiche Speerspitze der New Yorker „New Wave“ dort gemeinsam antritt.

Und jetzt also doch Tränen, Authentizitätsgehabe? Schließt sich nach zwei Jahrzehnten ein Kreis? Ist da einer endlich bei sich selbst angekommen? Als verschrobener Großstadtkauz, dessen bekanntester Song kaum zufällig die glatte french sophistication eines „Psycho Killer“ beschrieb (sein Versuch, so Byrne damals, „Alice Cooper und Randy Newman“ zu kreuzen), war David Byrne der perfekte Typ für die post-alles-80er – ein maßgeschneiderter Gegenentwurf zum „Confessional Songwriter“, der noch in den Siebzigern fleißig mit dem eigenen Bauchladen hausieren ging, jetzt aber damit fast nur noch auf den Bauch fiel.

Den überholten Rock-Mythos vom „What you get is what you see“ verwandelte Byrne als letztendlich erfolgreicher „Self-made Man“ (aktueller Songtitel) entschlossen in ein „What you get ist what you choose – what you see is exactly what I chose to be“ (Textauszug). So einen bekumpelt man nicht beim Bier.

Zwar lagen in dieser zurückgespiegelten Identität schon wieder Ansätze eines neuen, image-orientierten Mythos, der besagte, daß der Quäker-Sohn mit schottischem Stammbaum ausschließlich in fremden Existenzen wilderte (dabei ließ sich doch schon ein Song wie „No Compassion“ vom ersten Talking-Heads-Album „77“ unschwer als bitteres Postskriptum seiner gescheiterten Beziehung zu Kovacs dechiffrieren), aber dennoch: Wenn Byrne so etwas wie „True Stories“ (Album- und Filmtitel 1986) annoncierte, kam keiner auf die Idee, hier würde ein Mann nur seinen hausgemachten Psychomüll entsorgen. Er führte lieber ein paar Sonderlinge aus der (diesmal texanischen) Provinz vor, durchaus liebevoll, nicht denunzierend, mit dem flüsternden Unterton: „Hey, hätte nicht viel gefehlt, und Ihr coolen Köpfe da draußen wärt auch da gelandet.“

So waren sie, die 80er der sprechenden Köpfe: David Byrne wollte niemanden in Sicherheit wiegen, sich selbst am allerwenigsten. Seine Präsenz stellte stets die Identität des Künstlers als Popstar mit sich selbst in Frage. Und zwar durchaus bewußt. In der Talking- Heads-Biographie von Jerome Davis (Omnibus Press, 1986) wird Ed Bicknell, damals auf der ersten Europa-Konzertreise mit den Ramones Tour-Manager, folgendermaßen zitiert: „David genoß seine Exzentrizität – er konnte sie regelrecht ,anstellen‘, besonders im Umgang mit Journalisten. Er spielte dann ,David Byrne‘, neigte dazu, sein Image sehr stark auszuleben.“

Noch heute gehören Interviews mit Byrne nicht zur Small-talk- Promo-Routine. Man bangt mit dem zögernd und abrupt formulierenden, sekundenlang pausierenden Mann um fast jedes Wort – auch wenn gelegentlich ein Humor durchschimmert, der ihm von engen Weggefährten immer wieder gern bescheinigt wird. Und immer noch fragt man sich: Ist der so? Oder tut der nur so?

Fast zwanghaft mühte sich David Byrne schon immer, Klischees, auch selbsterzeugte, auszumanövrieren. Als anno '75 sein starrer Bühnenblick zum Gesprächsthema im CBGB's wurde, warf er diesen Habitus augenblicklich über Bord. Talking-Heads-Gefährtin Tina Weymouth sagte über Byrne: „Er ist nervös und zeigt das auch – weil es kein Klischee ist.“

Ist also doch alles viel einfacher als gedacht? Nach dem Ende der Talking Heads wandte sich David Byrne – als Chef des Luaka-Bop- Labels und Musiker – intensiv der brasilianischen Musik zu, schlug dabei mit seinem ersten Soloalbum „Rei Momo“ gleich einige dicke Fliegen mit einer Klappe. Als stilistisches Absetzmanöver ersparte es ihm lästige Vergleiche mit seiner alten Band. Darüber hinaus half der Ausflug, das Grübelimage zu mildern – das alles mittels einer musikalischen Tradition, in der hinter Schönheit nicht gleich Kitsch vermutet wird, sondern sanfte Subversion oder sogar politische Kraft. „Wenn in New York etwas nett und hübsch klingt“, höhnt Byrne, „schließt man daraus sofort, daß sich so nichts Profundes oder Innovatives sagen ließe. Dort muß alles häßlich sein, um relevant zu sein. Die Brasilianer hingegen haben kein Problem mit einer schönen Melodie oder einer schönen Stimme – sie verbinden Schönheit und Innovation.“

Und nun also die letzten 45 Grad des Kreises: „David Byrne“ – ein „persönliches“ Album? Und wenn ja: in welchem Sinne? Inspiriert von seinem Austausch mit persönlich bekennenden (Country-) Songschreiberinnen wie Lucina Williams und Rosanne Cash, gelingt Byrne mit „My Love Is You“ das gewiß direkteste, einfachste Liebeslied seiner Laufbahn, aber ist das schon alles? Im Gesamtkontext des Albums wirkt es nämlich fast ein wenig verloren. So verloren wie Byrne selbst, der in „A Long Time Ago“ die Retrospektive eines ungewollten Technologie-Jüngers betreibt, der seine Gefühle versteckte, bis sich der perfekte Coming-Out-Moment offenbarte. Der sich ob der Ungerechtigkeit der alle beglückenden Sonne denn doch lieber „Back In The Box“ wünscht, wo keine Entscheidungen warten (und damit auch keine Fehler lauern). Der letztlich sogar den (mißverstandenen) Trauerkloß als wahren Glückspilz dieser Tage feiert („Sad Song“). Und sich nur mit der alles relativierenden Attitüde eines „Nothing At All“ aus latenter Depression hochrappelt.

Byrne mag das Elend der 90er besingen, er mag sich gelegentlich auch im Kitsch verirren – auf nur ein Künstlermodell festlegen läßt er sich nicht. Das Cover zeigt ihn in einem schlichten Ganzkörper-Porträt, die Hände fast wie zum Gebet ineinandergelegt: Hier kommt Euer kleiner Todesengel. Im CD- Booklet finden sich Byrne-Fotos des Modefotografen und Björk- Videoregisseurs Mondino: Brusthaare in Nahaufnahme, Zehen, die Schulterpartie aus der Vogelperspektive. Der Hals aus der Brusthaarperspektive, schließlich gar ein Röntgenbild teils plombierter Backenzähne. Bilder, die exakt den gespaltenen Byrne charakterisieren – indizieren sie doch einerseits ungeheure Nähe und Intimität und lassen diese andererseits doch augenblicklich in einer Aura der Anonymität entschwinden.

Byrnes Idee, nur diese Mondino-Aufnahmen als Promo-Fotos für „David Byrne“ an die Medien herauszugeben, fand die Marketingabteilung seiner Plattenfirma naturgemäß nicht so witzig – und konnte sie ihm auch ausreden. Jetzt gibt's doch ein stinknormales Porträt, auch wenn sich Byrne in Sachen Fotos sonst bedeckt hält und nur dem Stern eine Kamera- Session gewährte.

Die Auflage nämlich kann (fast) niemand ignorieren. Und den Wa(h)ren Charakter seiner Unternehmungen hat Byrne bei aller Kunstattitüde ja auch nie verhehlt. Weshalb als sein „persönlichstes“ Statement durchgehen darf: „I am just an advertisement for a version of myself.“

David Byrne: „David Byrne“ (WEA)