Blechmusik auf Schrottauto

3.000 Aktionen unter dem Motto „Mobil ohne Auto“ / Breites Bündnis will nicht gegen Autos nörgeln, sondern Alternativen attraktiv machen  ■ Von Annette Jensen

Berlin (taz) – Um 9.16 Uhr fällt der Startschuß: Drei Herren sprinten aus dem Naturschutzzentrum in Pforzheim. Jeder von ihnen hat ein Postpaket unterm Arm. Tobias Demmel, Öffentlichkeitsarbeiter bei den Stadtwerken, eilt zur Bushaltestelle. CDU-Gemeinderat Klaus Gutscher schließt seinen vorm Haus geparkten BMW auf, während Lokalreporter Gerhard Ketterl schon im Sattel seines 5-Gang-Rades sitzt und den Berg hinabrollt.

Alle Männer haben den gleichen Laufzettel in der Tasche: Paket bei der Post abgeben. Heftpflaster aus der Nordstadtapotheke, einen Apfel vom Markt und einen Müsliriegel im Reformhaus besorgen. Ein Heft über Tarifbestimmungen bei den Stadtwerken abholen. Schließlich soll noch von jedem eine Anzeige im Lokalblatt erscheinen. Die Reihenfolge der Stationen, von denen zwei in Außenbezirken liegen, dürfen die Wettfahrer selbst bestimmen.

9.56 Uhr: Radler Ketterl erreicht das Naturschutzzentrum und sieht sich in seinem journalistischen Engagement für eine andere Verkehrspolitik voll bestätigt. Seine beiden Konkurrenten haben noch mit dem Stau in der Innenstadt zu kämpfen. 10.02 Uhr: Der CDU-Gemeinderat wird mit seiner Einkaufstüte vorstellig. 10.24 Uhr: Jetzt endlich ist auch der ÖPNV-Nutzer am Ziel.

3.000 lokale Veranstaltungen unter dem Motto „Mobil ohne Auto“ (MOA) finden diese Woche im ganzen Land statt. In Leipzig stellen sich Mitglieder vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) auf die Kanzel der Nikolaikirche und gestalten einen Gottesdienst. ChemnitzerInnen können ihren Autoschlüssel einen Monat lang gegen eine Busnetzkarte eintauschen, in Bonn spielen Leute in Bussen und Bahnen Sherlock-Holmes-Verfolgungsjagd, und in Berlin werden am Sonntag 15.000 RadlerInnen erwartet, die zusammen mit FußgängerInnen eine Menschenkette um den autofreien Innenstadtring bilden. Am Maschsee in Hannover lockt nicht nur ein Rollschuhparcours, sondern auch vier Trommler, die den ganzen Sonntag lang ein Schrottauto traktieren und eine neuartige Blechmusik kreieren.

„Wenn das Wetter schön bleibt, wird es am nächsten Sonntag die größte Umweltfete des Jahres geben“, prophezeit Michael Schäfer, der genau wie alle anderen MOA- AktivistInnen ehrenamtlich die Öffentlichkeitsarbeit koordiniert. Mit Bedacht wurden keine zentralen Massenveranstaltungen geplant, um nicht zusätzlichen Verkehr zu erzeugen. „Wir wollen nicht gegen das Auto nörgeln, sondern mal so richtig feiern. Politisch stellen wir die Forderung nach einer Verkehrswende“, faßt Schäfer den Sinn des Spektakels zusammen. Diese moderate und unkonkrete Vorgabe hat dazu geführt, daß sich in diesem Jahr außer den Umweltverbänden und vielen kirchlichen Gruppen auch der deutsche Sportbund, die DGB- Jugend und die Gewerkschaft für Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft beteiligen. Der DGB der Alten konnte sich offenbar nach längerer Diskussion nicht zu einer Teilnahme entschließen.

Die Ursprung von „Mobil ohne Auto“ liegt keineswegs im staugeplagten Westdeutschland, sondern in der DDR. In einem kirchlichen Umweltbildungszentrum in Wittenberg ersannen Pfarrer Hans- Peter Gensichen und einige Gemeindemitglieder 1981 diese Aktion als Beitrag zum Umwelttag – und fanden bald MitstreiterInnen in anderen Gegenden. „Mobil ohne Auto“ wurde zu einer der beliebtesten Aktionen der Opposition in Ostdeutschland. 1990 belebten dann ein paar Wessis die Tradition wieder und brachten im Jahr der Vereinigung immerhin 40.000 Leute auf die Beine oder Schiene. 1992 waren es dann schon 400.000 TeilnehmerInnen.

In diesem Jahr werden sich eine Million Leute irgendwo im Land beteiligen und ihre Blechkiste einen Tag lang stehenlassen – so schätzen und hoffen die InitiatorInnen.

Bundesweite Koordination: MOA, Tel.: 0911/208041. Fax: 0911/2059410