Abschreckung wird vom Gericht unterlaufen

■ Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit wie Falschparken? Ja, meint ein Frankfurter Oberstaatsanwalt

„Erwischt, verurteilt – der richtige Weg? hieß die Frage, die ein universitäres Symposium gestern Experten stellte. Weil Schwarzfahrdelikte zunehmend Gerichte und Polizei beschäftigen, die Bundesregierung aber gleichzeitig eine Bundesratsinitiative abschmetterte, die die Streichung aus dem Strafgesetz wollte, waren die Experten gerufen. Auch manche bekennende SchwarzfahrerIn fand sich ein.

Bereits nach einer Stunde schon hätten die praktizierenden NulltariflerInnen wohlinformiert ihr Ränzel schnüren können: Bis dahin hatte Jochen Stahlknecht, der oberste Justiziar der Bremer Straßenbahn AG, die wesentlichen Details über das unerlaubte „Erschleichen von Beförderung“ auf den Tisch der universitären Arbeitstagung zum Thema „Schwarzfahren“ gepackt. Bevor noch Polizeidirektor Albert Lohse oder zwei ebenfalls geladene Strafrechtler aus Frankfurt ihre Ansichten zur strafrechtlichen Verfolgung von „Beförderungserschleichern“ machen konnten, hätte sich für die schweigende Aktivistin des Nulltarifs schon die Teilnahme am Symposium der „Wissenschaftlichen Einheit Kommunalpolitik“ gelohnt, denn die Message der BSAG war bereits publik: Das Risiko beim Schwarzfahren ist überschaubar.

Das Transportunternehmen spart nämlich am Personal. Seit die StraßenbahnschaffnerInnen in Bremen 1971 abgeschafft wurden, ist die Fahrscheinkontrolle nur noch ein punktuelles Geschäft – nichtmal ein einträgliches: Die Personal- und Verwaltungskosten für die rund 30 Kontrollettis liegen weit über den eingetriebenen Erwischt-Geldern von 60 Mark. Von einer Million Fahrgästen bei der BSAG werden ganze 100.000 kontrolliert; einen Kontrollgrad von einem Prozent nennt man das in der Fachsprache – das ist wenig im Vergleich zu anderen Städten. Kein Wunder: Wirklich unterwegs sind während des Jahres nur zehn „Fahrkartenprüfer“.

Dieses Wissen alleine schützt die sparsame Nahverkehrsreisende jedoch nicht vor unangenehmen Folgen ihres verbotenen Tuns. Neben den 60 Mark Zwangsgeld pro Erwischt-werden droht der Schwarzfahrerin ein Strafverfahren, sobald sie als Notorikerin entlarvt wird – und als die gilt sie, wenn sie sich drei Mal innerhalb der letzten zwei Jahre erwischen ließ. Doch selbst für den Fall hätte sie auf dem gestrigen Symposium Mut für die Zukunft schöpfen können, denn mit ein wenig Umsicht kann die Bagatell-Kriminelle dem Verfahren entgehen – ganz zum Ärger der BSAG-Rechtsabteilung. Selbst der Strafantrag der BSAG bedeutet nämlich nicht, daß es wirklich zum Verfahren kommt: Von 2.700 angezeigten Fällen in denen die BSAG 1993 Strafantrag gestellt haben will (bei der Polizei weiß man von rund 1.000 Fällen weniger), wurden 780 vom Gericht eingestellt. Vor allem solche Menschen, die rechtzeitig den Einwand erheben, nur die Bremer Karte vergessen zu haben, entgehen meist dem gerichtlichen Zugriff. „Da ist die Verfolgung quasi nicht möglich“, so Stahlknecht. Die Absicht des Nichtbezahlens sei dann schwierig nachzuweisen.

Ärgerlich für das Unternehmen: Werden die extra angestrengten Verfahren von der Behörde eingestellt, verpufft das Abschreckungsprinzip der BSAG wirkungslos. „Angesichts eines geringen Risikos wird die Tat bagatellisiert“, schätzte Stahlknecht – und handelte sich gleich in mehrfacher Hinsicht polizeiliche Kritik ein.

Die Argumentation mit den statistischen Daten sei beispielsweise fragwürdig, fand Polizeidirektor Albert Lohse. Die angegebenen 274 Schwarzfahr-Delikte, die auf 100.000 BremerInnen kommen, gäben vor allem Hinweise auf die Verfolgungsaktivitäten der Unternehmen. Denn nur die zeigen an und beeinflussen entsprechend die Kriminalstatistik. Mit deren Hilfe forderten die Unternehmen dann moralische und rechtliche Unterstützung ein – die doch nur eigene Mängel ausgleichen solle. „Wie überall im Geschäftsleben ist kein Vertragspartner davor gefeit, über's Ohr gehauen zu werden“, stellte Lohse fest. Wenn die BSAG nicht kontrolliere, müsse sie sich deshalb nicht wundern, wenn andere auf ihre Kosten eine schnelle Mark machen. Und um mehr als ein paar Mark gehe es auch nicht: 4.500 Mark Mindereinnahmen rechnete er der BSAG bei 1.500 angezeigten Fällen vor. Deren Bearbeitung komme die Polizei unverhältnismäßig teuer: Zwei Polizisten im Streifendienst könnten davon bezahlt werden. „Mich stört das eklatante Mißverhältnis zwischem privatwirtschaftlichem Interesse und dem staatlichen Sanktionsanspruch“, sprach Lohse deutliche Worte. „Die strafrechtliche Regelung fällt unter die 50 Prozent, von denen ich behaupte, daß kein Mensch ihr Fehlen bemerken und bedauern würde.“

Mehr als das, vertraten die Frankfurter Juristen die Position der Ärmsten. „Hier findet doch die Selektion der Armut statt“, konstatierte der Frankfurter Oberstaatsanwalt Werner Koch. „Wer 60 Mark zückt, kommt meist mit dem Schreck davon. In den Mühlen der Strafverfolgung bleiben nur die Ärmsten hängen“, das könne er mit unzähligen Beispielen belegen. deshalb gebe es aus seiner Sicht kein Argument dagegen, Schwarzfahren auf die gleiche Weise wie Falschparken zu ahnden. Als Ordnungswidrigkeit. Er sei es leid, daß die Justiz als „Pseudoentkriminalisierungsbehörde“ mißbraucht würde, die Nachsicht üben solle. „Es ist höchste Zeit für ein politisches Handeln.“

ede