Mitleid statt Stimmen

So schwach wie vor den Europawahlen hat sich die Linke in Italien noch nie gezeigt / Die Rechten liefern sich derweil ungestört einen Konkurrenzkampf um Plakatflächen und Posten  ■ Aus Mailand Werner Raith

Die quietschenden Reifen, die eben naßgesprengte Straße, das fahle Licht des Morgens lassen fast an eine Szene aus Chicago denken. Man weicht förmlich zurück bis an die Häuserwand, so heftig prescht ein Kleinlaster aus einer Seitenstraße auf die Piazza della Scala, zwei Männer springen heraus, einen Kübel und vier Plakate in der Hand, ein Dutzend schneller Striche, schon klebt das Konterfei des neofaschistischen Europa-Anwärters Saporito unübersehbar an den Eisentafeln der Verkehrsinsel; bis die noch vor sich hinnickenden frühen Taxifahrer sich aufgerichtet haben, ist der Spuk schon vorbei.

Zwei Minuten danach biegt ein weiterer Quietschwagen um dieselbe Ecke, ein schneller Blick der drei Männer in die Runde, die eben angebrachten Plakate ausgemacht, Leim-Eimer in Stellung, und schon klebt über dem Manifest eine weiße Banderole: „affisso abusivo“. Früher hätte man das Papier einfach abgerissen, doch jetzt – die Mailänder sollen wissen, wer hier die Stadt verschandelt: eben die sonst so groß auf Ordnung und Korrektheit pochenden Faschisten.

Doch die Überkleber sind keine denunziationseifrigen Linken, sondern Bündnispartner der Neofaschisten im römischen Kabinett. Das zeigt sich wenig später, als ich die Nach-Kleber zufällig anderweitig im Einsatz finde: Sie stellen ein Rednerpult für eine Kundgebung nahe der Piazza Istria auf – diesmal für ihre eigene Partei, die „Forza Italia“ Silvio Berlusconis. Ein Wirtschaftsexperte wird als Redner erwartet, was einen eher trockenen Vortrag erwarten läßt, doch die Versammlung hat im Grunde sowieso einen ganz anderen Zweck als den programmatischer Verkündigungen. Die Mailänder sollen sehen, welch wohlgeordnetes Parteivolk derzeit in Rom die Regierung trägt.

Mailand im Europawahlkampf: „Ausgerechnet jetzt“, sagt ein enger Mitarbeiter des vor einem Jahr über die Liste der Liga lombarda zum Bürgermeister gewählten Technokraten Marco Formentini, „ausgerechnet jetzt, wo wir wirklich regierungsfähig geworden sind, kommt uns der Drive abhanden.“

Wohl kandidiert Liga-Chef Umberto Bossi – wie auch sonst alle Parteiführer in Italien – höchstpersönlich fürs Europaparlament, doch inzwischen sind die stark auf Regionalisierung pochenden Ligen gespalten, ist ihnen ihr Hauptideologe Gianfranco Miglio im Ärger entschwunden, fallen die Nordstaatler bei Meinungsumfragen ständig weiter zurück.

Berlusconi hat offenbar mit seinem Konzept, die Ligen in die Regierung zu holen, dann aber durch allerlei Verhandlungstricks zu verunsichern, Erfolg gehabt. „Am 12. Juni werden wir Gegner sein“, hatte Bossi schon während der Verhandlungen zur Regierungsbildung getönt, aber das hat Berlusconi nicht sonderlich beeindruckt. Er kennt seine Oberitaliener zu gut: Wer die Aktienmehrheit hat, wird hofiert, die Minderheitsteilhaber mit Ignoranz gestraft. Und in der Regierung hat Berlusconi die Aktienmehrheit.

Dennoch schaut der Großteil Italiens weniger auf die regierungsinternen Querelen, sondern auf das, was die Opposition macht. Nicht, weil sich die politische Präferenz nach dem Rechtsrutsch plötzlich gewandelt hätte – vielmehr kommt da ein für Italien typischer Zug zum Vorschein: das Mitleid mit dem Geschlagenen. So darnieder hat sich die Linke noch nie gezeigt, seit es das demokratische Italien gibt – das gilt für die führende Demokratische Partei der Linken (PDS) ebenso wie für die Schar kleinerer Gruppierungen wie die Antimafiabewgeung, die Grünen, die Neokommunisten und die Demokratische Allianz. Die früheren Kommunisten bekommen von ihren ehemals Millionen zählenden Volontären nicht einmal mehr genügend Leute zum Plakatekleben auf die Beine: gut eine Woche vor den Wahlen kleben in ganz Mailand noch keine hundert Plakate.

Dabei hätten PDS und Co allen Anlaß, in die Offensive zu gehen. Neben tausenderlei Schnitzern im Ausland, einer fast totalen Isolierung der Fascho-Minister in der Europäischen Union richtet die neue Regierung derzeit geradezu ein Massaker im Bereich der Pensionen und aller anderen Versorgungsansprüche an. Dazu ist sie drauf und dran, die Steuern nicht wie versprochen zu senken, sondern anzuheben, hat selbst mit der groß angekündigten Förderung des Autoverkaufs durch Abgabenminderung allenfalls das Hohngelächter von Fiat hervorgerufen: „So geht das wirklich nicht“, schimpfte ein Sprecher des Autokonzerns, „mit derlei Schaufenstergeschenken kriegen wir keine drei zusätzlichen Kleinwagen los“.

Schließlich hat die Regierung auch noch ihren ersten Skandal: der neue Gesundheitsminister ist schnell auf Auslandstour gegangen – doch statt italienische Politik zu erfüllen, macht er vor allem Werbung für eine Firma seiner Frau.

Doch aus der linken Ecke kommt nichts. Lieber schon plazieren die verschiedenen Parteiideologen und Regionalmatadoren ihre Ansprüche auf den künftigen Parteivorsitz in den verschiedenen Medien und stauchen sich gegenseitig zusammen. Philosoph Massimo Cacciari, der Ende letzten Jahres Bürgermeister von Venedig wurde, gibt seine Rezepte für ein „modernes Fortschrittsdenken“, der Chefredreakteur der Parteizeitung L'Unita, Valter Veltroni, analysiert zum fünfzigstenmal die Gründe für die Niederlage bei den Parlamentswahlen und hofft auf eine Revanche für das schlechte Ergebnis.

Parteichef Achille Occhetto knurrt beim leistesten Versuch der Kritik an seinem Pudding-Programm: „Die Vergangenheit ist passé, Vorwärtsschauen in die Zukunft“ – um danach selbst heftig „die Werte, die uns einst groß gemacht haben“, zu berufen: „Antifaschismus, Widerstand, Demokratie“.

Genau das Rezept, mit dem er vor zwei Monaten die Parlamentswahlen haushoch verloren hat. In einer Zeit, wo Massenarbeitslosigkeit, Steuerdruck und Angst vor Kriminalität die beherrschenden Themen sind, taugen altvordere Werte gerade noch für Kamingespräche.