Träume mit so viel Realität

■ Jugendliche im KZ: Nach der Verfolgung folgten Jahrzehnte des Schweigens

„Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben“ - das ist der Titel der Ausstellung, die gestern nachmittag in der Unteren Rathaushalle Bremen eröffnet wurde und noch bis zum 1. Juli 1994 zu besichtigen ist. Im Mittelpunkt der Ausstellung über die Jugendkonzentrationslager in Moringen bei Göttingen (1940 bis 45) und in Uckermark bei Fürstenberg (1942 bis 45) stehen die Schicksale junger Menschen, die aus sogenannten politischen Gründen verfolgt wurden. Die beiden 70jährigen Bremer Fernando Molde und Fritz Meding waren 19 Monate und fünf Jahre im Konzentrationslager Moringen inhaftiert.

Im März 1938 beginnt Molde eine Bäckerlehre. Er wird schikaniert und regelmäßig von seinem Meister geschlagen. Er verläßt seinen Arbeitsplatz. Kurze Zeit später wird er von der Polizei aufgegriffen. Fernando Molde wird gezwungen, seine Lehre fortzusetzen. Der Konflikt mit dem Meister verschärft sich. Molde flüchtet ein zweites Mal. Er wird erneut verhaftet und als „Arbeitsscheuer“ und „Asozialer“ bezeichnet. Das Jugendamt weist ihn im Herbst 1940 in das Jugend-KZ Moringen ein. Die „taz“ wollte von Fernando Molde wissen, welche Parallelen es zum Rechtsradikalismus heute gibt.

taz: Resultiert der heutige Rechtsradikalismus aus der Geschichte oder muß der Zusammenhang neu erklärt werden?

Molde: Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit hat nie stattgefunden. Viele der ehemaligen Anhänger Hitlers und Menschen rechtsradikaler Gesinnung warten auf den Tag, an dem sie sich wieder bemerkbar machen können. Jugendlichen wurde gesagt, daß die Nazi-Herrschaft nicht einmal das schlechteste war ...

Das Bild vom häßlichen Deutschen ist gänzlich verdrängt worden?

Erzählen Sie mal den Leuten unter den Rathausarkaden, die sozial immer weiter abgerutscht sind - erzählen Sie denen mal: du kriegst 700 Mark monatlich als Sozialhilfe, du kriegst Arbeit und du kriegst ein Auto. Da würden die auch die Braunen unterstützen.

Was hat in der Weimarer Republik zu dem Phänomen des Nationalsozialismus geführt?

Wir haben heute vier Millionen Arbeitslose, in Weimar waren es sechs Millionen. Der Unterschied ist nicht allzu groß. Die Perspektivlosigkeit der Jugend spielt mit Sicherheit eine große Rolle. In der Not kommen viele Gedanken, insbesondere wenn man die Gegenseite betrachtet, die kapitalistische Gegenseite. Aus Neid kann ein Verbrechen entstehen. Die Jugendlichen sehen, wer sich ein dickes Auto leisten kann, sie sehen, wer keine Arbeit hat und sich nur das Nötigste leisten kann. Sie werden aggressiv und wehren sich gegen ihre Arbeitslosigkeit und nehmen fatalerweise an, die Ausländer seien schuld an der Misere.

Ist der Ausländerhaß in Weimar mit heute zu vergleichen?

Damals richtete sich der Haß weniger auf Ausländer. Er richtete sich gegen die Proletarier. Ein Proletarier war ein „geduldeter Untermensch“. Ebenso sollten Sinti und Roma, Sozialdemokraten, Kommunisten, Leute in Jugendverbänden, die Zeugen Jehovas, Schwule und Swing-Boys vernichtet werden. Denn das paßte nicht zur nationalsozialistischen Ideologie. - Ich war auch ein Swinger, das genügte, dich in einem Konzentrationslager zu brechen, dich kaputt zu machen. Und der Haß auf Schwule, Ausländer und Menschen, die politisch anders denken, wiederholt sich.

Wo zeigen sich weitere antidemokratische Strömungen?

Die sogenannten besseren Leute schirmen sich völlig ab. Es interessiert sie einen Dreck, was vor ihrer Haustüre passiert. Und wenn einer da draußen liegt, steigen sie drüber weg. Unsere Gesellschaft ist eine Ellenbogengesellschaft. Behinderte und Sozialhilfeempfänger fallen da eben raus. Ich bin froh, daß es in Deutschland eine soziale Absicherung gibt. Wenn du aber rausgeschmissen wirst, deinen Job verlierst, ist der Weg zur Parkbank im Bürgerpark nicht weit.

Ist „Bonn ist nicht Weimar“ nicht vielmehr eine Schönwetterfloskel?

Den Faschismus wie im Dritten Reich wird es in dieser Form nicht mehr geben. Doch die soziale Armut könnte ein neuer Nährboden werden.

Ist es anzunehmen, daß der Mittelstand bei den Bundestagswahlen im Herbst rechtsradikale Tendenzen zeigt?

Ich stufe die Arbeiter erheblich ehrlicher als den Mittelstand ein. Der Mittelstand ist nur auf das Zusammenraffen aus. Und ein Geschäftsmann, der seine Vorteile sieht - dem traue ich zu, daß er auch wieder die Fahne umhängen kann.

Sie haben überlebt. Welche Wunden tragen Sie mit sich herum?

Ich wurde 1942 zur Wehrmacht eingezogen - und habe fünf schwere Verletzungen davongetragen. Ich habe heute teilweise noch Schmerzen. Aber die psychischen Schmerzen, die sind viel schlimmer. Die Gestapo ist hinter dir her, will dich verhaften, du kannst nicht laufen - und schweißgebadet wache ich auf und weiß, ich habe nur geträumt.

Fränze Stucky