„Wir wollen den harten Kapitalismus“

Von Gorbatschows Sozialismus mit menschlichem Antlitz wollte sie nie etwas wissen. Nun verdient sie US-Dollar, reist nach Indien und sucht die russische Seele: Moskaus „new generation“  ■ Aus Moskau Boris Schumatsky

Konstantin trägt sein Geld in einem großen Rucksack. Lässig schmeißt er am Ende des Arbeitstages die Rubel-Millionen auf den hinteren Sitz seines alten Ladas und fährt zur Bank, um sie gegen Dollar umzutauschen. Denn die Rubel verlieren ihren Wert schnell. Den ganzen Tag hat Konstantin unzählige Straßenkioske und Geschäfte abgeklappert, in denen seine Waren angeboten werden. Bei seiner letzten Chinareise kaufte er Computer, Klamotten und Videoanlagen en gros: drei ganze Lkw-Ladungen. Sie „gehen“ gut, und im Laufe des Tages wird der Rucksack immer schwerer. Erst gegen elf kommt Konstantin nach Hause, den Dollarverdienst sorgfältig in der Gürteltasche versteckt.

Konstantin gehört zur neuen Generation der bisnesmeni – neurussisch für businessmen. Die englischsprachigen Medien nennen sie ganz treffend new russians. Auch die russische Presse übernahm diesen Ausdruck – novije russkije – und nicht etwa den früher sehr gängigen Begriff nouveaux riches: Neureiche. Die Reichen sind nämlich in Rußland keine neue Erscheinung. Die reichsten Leute bleiben auch heute die ehemaligen Parteifunktionäre und Mafiosi, die bereits zu Sowjetzeiten Spitzenverdiener waren. Geschäftsleute wie der gerade 25jährige Konstantin sind dagegen wirklich neu, schon deshalb, weil sie im Gegenteil zu sogenannten „Kom-Kaps“ ihr Geld nicht mit Hilfe korrumpierter Machtinstitutionen erwirtschaften.

Freilich muß auch Konstantin Schutzgeld an die Mafia zahlen, obwohl er lieber „normale“ Steuern gezahlt hätte. Aber der Staat ist im Moment nicht imstande, erfolgreiche Manager vor Erpressern zu schützen, geschweige denn Kleinunternehmer wie Konstantin. Und außerdem ist die Finanzpolitik des Staates genauso brutal wie die Erpressung durch die Mafia. Ein Unternehmer muß bis zu 65 Prozent Einkommensteuer zahlen. Deswegen zieht er es vor, mit dem sogenannten black cash zu operieren; was soviel heißt wie: bar zahlen und bar kassieren.

Übrigens zahlt Konstantin nicht viel, weil der für ihn „zuständige“ Mafioso ein Schulfreund ist. Beide kommen aus einer Kleinstadt bei Moskau, beide aus relativ einfachen Verhältnissen. Konstantins Freund ist in seinem „Beruf“ sehr erfolgreich: Er hatte als einfacher Soldat in einer Gruppierung – so heißen die Mafia-Clans in Rußland – angefangen und schnell Karriere gemacht. Jetzt fährt er einen Mercedes, während sich Konstantin immer noch mit seinem Lada begnügen muß.

Dennoch beneidet Konstantin seinen Freund nicht. Das schnell verdiente Geld ist nicht sein Ziel. Statt dessen denkt er an die Zukunft. Zur Zeit ist Konstantin in Deutschland, und nicht on business. Er findet in Deutschland vieles, was er in Moskau vermißt: „Eine anständige Art, Geschäfte zu führen, einen Rechtsstaat und sogar eine gewisse Ethik, die Achtung der Persönlichkeit. Also das Gegenteil zu Aggressivität und rückhaltloser Gewalt, die das Leben im heutigen Rußland prägen.“ Konstantin hat vor, einen Kurs am Goethe-Institut in Berlin zu absolvieren, und ist bereit, 2.400 Mark für sechs Wochen auszugeben. Aber auswandern will er nicht. Trotz Schirinowskis Wahlsieg glaubt der ehemalige Pädagogikstudent an den Erfolg der Reform. „Früher interessierte mich die Politik gar nicht“, erzählt Konstantin. Heute aber lese er jeden Tag die Iswestija. Kürzlich hat Konstantin ein eigenes Lebensmittelgeschäft eröffnet. Er hofft, daß man auch in Rußland bald „zivilisiert“ leben und Geld verdienen kann.

Konstantin könnte Deutsch auch in Rußland lernen, aber am Goethe-Institut in Moskau gibt's eine lange Warteliste. In allen russischen Städten schießen die Sprachkurse wie Pilze aus dem Boden. Das ist ein eindeutiges Zeichen für die Öffnung. Auch der 25jährige Mathematiklehrer Dima lernt Französisch, doch die Sprache ist für ihn alles andere als ein Kommunikationsmittel. Dima ist ein leidenschaftlicher Liebhaber der russischen Literatur, und Französisch war die zweite Sprache aller großen Schriftsteller von Puschkin bis Tolstoi. Ein bedeutender Teil der Dialoge in Tolstois „Krieg und Frieden“ ist auf französisch geschrieben. Und Dima will dieser Tradition treu bleiben.

Und doch ließ Dima eine einmalige Gelegenheit verstreichen, kostenlos nach Paris zu reisen. Statt dessen unternahm er eine Pilgerreise zu einer „Heilquelle der russischen Seele“, nach Archangelsk am Polarkreis. Dort – so heißt es – soll in einem kulturellen Asyl das alte Mütterchen Rußland in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben sein. Kurz nach dem Putsch im Oktober kehrte er zurück, voll neuer Erfahrungen. Dima sitzt am Küchentisch, wo alle wichtigen philosophischen Gespräche der russischen Intelligenzija stattfinden, und predigt seinen neuen Glauben. Er verzichtet darauf, mit allen Wodka zu trinken. Mit dem neuen Bart wirkt er wie ein junger Prophet. Überraschend ist seine Reaktion auf die blutigen Ereignisse und den Wahlsieg Schirinowskis. Dima ist nicht erschüttert, nicht einmal besorgt. Er lächelt, als ginge es ihn überhaupt nichts an. Etwas ganz Wichtiges habe ihm nämlich eine Babuschka aus einem entlegenen Dorf offenbart.

Jekaterina Wladimirowna überlebte den Bürgerkrieg, die Kollektivierung, den Stalinterror und den „Großen Vaterländischen Krieg“. Doch alles ging an ihr spurlos vorbei. Nie, so Dima, habe sie sich vorgenommen, die unerträglichen Lebensbedingungen zu ändern, nie habe sie erwogen, in eine Großstadt zu ziehen. In diesem Elend besitze sie aber einen Schatz, um den wir sie beneiden könnten: ihre Seele. Der 25jährige: „Möglicherweise wird auch uns guttun, was jetzt auf Rußland zuzukommen scheint: der Faschismus Schirinowskis oder die Rückkehr des Totalitarismus sowjetischer Art.“

Die Perestroika und die Reformen haben Rußland eine gewisse Freiheit gebracht, eine Vielfalt an Möglichkeiten, die die new russians so gut nutzen und auch schätzen können. Doch gerade Freiheit kann Dima nicht gebrauchen. Genauso „frei“ wie heute sei er zu schlimmsten Zeiten des Kommunismus gewesen: Die „äußere“ Unfreiheit – etwa in der Armee – habe ihm geholfen, „irdischen Versuchungen“ standzuhalten.

Dima ist einer der letzten Intelligenzler russisch-sowjetischer Prägung und gleichzeitig einer der wenigen, die immer noch an die geheimnisvolle russische Seele glauben. In der jungen Generation gibt es diese Teilung – die Intelligenzija und das „einfache“ Volk – nicht mehr. Viele Geschäftsleute, aber auch Künstler und Journalisten kommen aus sehr einfachen Verhältnissen. Die in der Sowjetzeit so hochgeschätzte „Bildung“ und der dadurch vorgezeichnete Berufsweg spielen so gut wie keine Rolle mehr. Heute kann jeder machen, was er will. Alles steht frei, ganz so, als sei das postsowjetische Rußland auch tatsächlich zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden.

Noch vor drei Jahren war es ganz anderes. Fast zwei Drittel der jungen Leute sahen für sich keine Zukunft in Rußland und wollten auswandern. Zwar bildet sich auch heute vor dem deutschen Konsulat in Moskau jeden Tag eine lange Warteschlange. Doch die meisten wollen lediglich ein kurzfristiges Visum für eine Besuchs- oder Geschäftsreise beantragen. Bereits um fünf Uhr morgens sammeln sich die ersten Reiselustigen vor den geschlossenen Toren der Botschaft. Wer später kommt, hat keine Chance. Es ist fast noch dunkel, kalt und regnerisch, nur wenige Grad über Null. Noch vier Stunden Wartezeit müssen die Antragsteller hinter sich bringen, dann erst werden die ersten eingelassen werden.

Die Wartenden sind hauptsächlich junge Leute. Ein bisnesmen sitzt in seinem Audi mit laufendem Motor und kommt alle Viertelstunde vorbei, um seinen Platz in der Schlange nicht zu verlieren. Ein Rock-Fan in schwarzer Lederjacke zittert vor Kälte. Er klatscht mit den Händen, tanzt und beginnt plötzlich zu singen: „Don't play the fool, America. Nimm hier die Valenki (russische Filzstiefel), trink einen Schluck Wodka, du frierst ja. Und gib uns Alaska zurück.“ Es ist ein Song der russischen Gruppe „Ljube“. Doch dieser ironische Revanchismus findet keinen Widerhall. Ein junger Mann aus der Provinz – zu erkennen an den Valenki, die in Moskau fast niemand mehr trägt – schlägt vor, ein Lagerfeuer zu machen, doch man unterstützt auch ihn nicht. Die Deutschen würden es nicht erlauben.

Unter den Wartenden entsteht eine typisch russische Kameradschaft. Natascha, Referentin in einer französischen Zeitung, macht den bisnesmen an. Es ist offensichtlich, daß sie sich nur ein bißchen aufwärmen will in seinem Wagen. „Es ist kalt hier in Rußland“, sagt Natascha. Ein deutscher Freund habe ihr eine falsche Einladung geschickt und bezahle die Unterkunft. So eine Gelegenheit dürfe man sich einfach nicht entgehen lassen. Und außerdem könne sie es nicht länger als acht Wochen in Rußland aushalten.

Neulich war Natascha in Indien, und ihr Urteil über das Land ist hart: ein sozialistischer Staat. Einmal in Delhi habe sie einen dringenden Wunsch nach französischem Käse gefühlt. Doch in der ganzen indischen Hauptstadt gebe es keinen einzigen „normalen Supermarkt“! Europa kenne sie auch, mag es aber nicht, insbesondere Deutschland. „Deutschland kann ich einfach nicht ertragen. Es ist so sozialistisch! Viel zuviel soziale Gerechtigkeit. Wir Russen sind wohl die letzten überzeugten Kapitalisten in Europa geblieben.“

Der russische Kapitalist bleibt jedoch hart und kehrt zu seinem Audi allein zurück. Der Rock-Fan singt dazu einen anderen Song: „Good-bye, America, deine engen Jeans sind mir jetzt zu eng.“ Er kommt nach Deutschland, um eine CD aufzunehmen. Die Schlager, die er an diesem Morgen sang, haben mit dem sowjetischen Imperialismus nichts zu tun. Ganz im Gegenteil, sie sind eine Manifestation der Gleichberechtigung mit dem reichen westlichen Rivalen, der von den offiziellen Ideologen gehaßt und von den meisten Russen bewundert worden war.

Vor zwei Jahren hat Michail Gorbatschow über die russische Jugend geschrieben: „Die Gesellschaft hatte sich völlig geändert. Die heute 18- bis 20jährigen sind in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen. Sie sind zu mutigen Verteidigern der Demokratie geworden.“ Unter Demokratie verstand der letzte Generalsekretär der KPdSU freilich lediglich einen reformierten Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Schon damals sind die meisten jungen Leute nicht auf die Idee gekommen, Gorbatschows Utopie ernst zu nehmen. Und auch jetzt wissen sie ganz genau, was sie wollen. Keine sanften politischen Phantasien, sondern etwas hartes – den realen Kapitalismus. Sie sind zu coolen Kämpfern im kapitalistischen Dschungel geworden, und sie genießen es.