Sozusagen Kino für Blinde Von Thorsten Schmitz

Mein Freund Thomas hat sie nicht mehr alle, ich hab's kommen sehen. Und schuld daran ist die Telekom.

Seine Krankheit begann ganz harmlos, doch inzwischen steht fest: Er leidet, unheilbar, an Telefonitis. Die Ärzte geben ihm nur dann noch eine Chance, wenn er innerhalb der nächsten Tage einen Telefonanschluß bekommt; eine Nummer immerhin hat er schon. Aber in Berlin muß man auf die Telekomler mindestens zwei Monate warten. Eine Hauptstadt wird erwachsen.

Solange Thomas keinen Telefonanschluß hat, telefoniert er mit einem sündhaft teuren Funktelefon – 800 DM –, das er überallhin mitnimmt. Denn er muß ja erreichbar sein als Architekt. Wie wichtig dieses kleine Schwarze ist, habe ich letzte Woche live erlebt. Nachts saßen wir draußen in einem Café am Kollwitzplatz, wir tranken Sekt, und das Ding piepste. Thomas reagierte wie verzaubert, stand tranceartig auf, lief hinter einen Baum, damit ihn die Autonomen nicht als Yuppie outeten. Und telefonierte. Mit jemandem aus Köln. Der fuhr am nächsten Tag nach London und wollte wissen, welche Clubs auch nach 23 Uhr noch aufhaben...

Besonders anfällig ist Thomas für die Übermittlung wirklich unwichtiger, deshalb aber spannender Ereignisse. Letztens klingelte mein Telefon, und Thomas berichtet, er stehe vor einer roten Ampel in der Potsdamer Straße, links neben ihm, in einem lindgrünen Ford Sierra, sitze eine schöne Frau, und gerade überquere ein schöner Mann die Straße, ob er ihm hinterherfahren soll?

Gestern rief mich Thomas an, und ich konnte ihn kaum verstehen (wegen Funkschatten, soviel habe ich inzwischen gelernt). Mit nacktem Oberkörper, erfuhr ich, liege er auf einem Paddelboot im Schwielowsee, eine polnische Schauspielerin rudere ihn, und er beobachte gerade, wie sich eine Wolke vor die Sonne schiebe.

Funktelefone sind wie Kino für Blinde, eine Art Real World. Nun braucht man nicht mehr warten, bis man sich trifft und das Neueste austratscht. Den Verlauf eines Rendezvous etwa kriege ich – bei D2 sitzen Sie in der ersten Reihe! – brühwarm aufgetischt, wenn Thomas mal eben aufs Klo verschwindet und mich von dort aus anruft.

Ein Nachteil machte Thomas bis vor kurzem noch schwer zu schaffen: Das Piepsen ist ziemlich ärmlich, das heißt, man hört es nicht. So entgehen einem womöglich wahnsinnig wichtige Anrufe. Deshalb beauftragte Thomas die Stuttgarter D2-Zentrale, ihm eine Mailbox einzurichten, eine Art mobiler Anrufbeantworter für Funktelefone. Wenn ich nun seine elfstellige Nummer wähle und er ist nicht da, erklärt mir eine weibliche Roboterstimme, daß ich drei Möglichkeiten habe, Nachrichten zu hinterlassen, zu löschen, zu ergänzen, wieder von vorne anzufangen usw. Allein ein Notruf, etwa: „Thomas! Hilfe! Wo steckst du? Ich brauch' dich sofort!“, verschlingt 23 Einheiten. Kostspieliger Kumpel Thomas.

P.S.: Ich gestehe: Inzwischen bin auch ich infiziert mit Telefonitis. Thomas kam gestern abend vorbei, und wir tranken Wein und redeten über Mailand und über die Liebe. Irgendwann fragte ich ihn so ganz nebenbei, ob er sein Ding dabeihabe, und er sagte, ja, na klar. Er gab es mir, ich tippte darauf meine Telefonnummer, und es klingelte mein Telefon, und Thomas hob ab. Und wir sahen uns an und redeten. Aber viel fiel uns nicht ein.