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Belehren, Frotzeln, Streiten

Was wir über unser Geschwätz beim Mittagessen schon immer wissen wollten: Eine Soziologin analysierte jetzt vergnüglich und klug die Funktionen und Strategien familiärer Tischgespräche  ■ Von Harry Nutt

Wer erinnert sich nicht der väterlichen Ansichten über Lebensplanung oder Mutters Vorstellungen von Kirche, Mode und Geschmack? Die Besserwisserei des älteren Bruders nervte ebenso wie das beharrliche Fragen der kleinen Schwester. Zum Thema familiärer Tischgespräche verfügt jeder über eine gehörige Portion Expertenwissen. Welcher geheimen Ordnung aber folgen die immergleiche Essenszeremonie zu Weihnachten und der Chor der Zwischenrufe beim Diavortrag nach den Urlaubswochen? Vermutlich konnten sich Tischgespräche einer wissenschaftlichen Untersuchung nur deshalb so lange erfolgreich entziehen, weil ihr Inhalt als profan erachtet wurde.

„A woisch, des isch also ...“ Die Konstanzer Soziologin Angela Keppler hat mehr als 100 Tonbandstunden aus verschiedenen Familien und Wohngemeinschaften transskribiert und ausgewertet. Herausgekommen ist weit mehr als eine voyeuristische Live-Schaltung in das durchschnittliche deutsche Eßzimmer. Was wir über unser Geschwätz beim Mittagessen schon immer wissen wollten, erfahren wir aus Kepplers ebenso unterhaltsamen wie klugen Analysen der aufgezeichneten Tischgespräche. Sie hat sich dabei für das Wie der dialektgefärbten Unterhaltungen mehr interessiert als für das Worüber. Bereits Immanuel Kant hatte ausgeprägte Vorstellungen davon, wie das festliche Gastmahl zu verlaufen habe. „a) Wahl eines Stoffs zur Unterhaltung, der alle interessiert und immer jemandem Anlaß gibt, etwas schicklich hinzuzusetzen ... b) keine tödliche Stille ... c) den Gegenstand nicht ohne Not variieren ... d) keine Rechthaberei ... e) sich selbst und seinen Affekt sorgfältig so in Disziplin zu erhalten, daß wechselseitige Achtung und Wohlwollen immer hervorleuchte.“ Angela Keppler ist jedoch nicht der Frage nachgegangen, ob die Schmidts den Kantschen Kanon besser bedienen als die Müllers. Nicht Regeln, sondern ein Gerüst aus Regelmäßigkeiten verleiht der Familie als Sprechergemeinschaft Gestalt. Jede Familie vergewissert sich mit Hilfe eines spezifischen kommunikativen Repertoires, das sich aus Kommunikationsformen wie Belehrung, Frotzeln, Streit, Diskussion, Klatsch etc. zusammensetzt, über die eigene Existenz. Der Tratsch über die Nachbarn ist demnach nicht nur ein beliebiger Gesprächsgegenstand, sondern erweist sich auch als Verständigung über moralische Standards.

Die Gesprächsweisen der einzelnen Familien unterscheiden sich deutlich voneinander. Zur Vielfalt an Themen, die in Familie Schmidt besprochen werden, kommt eine Vielfalt von Verfahren und Gesprächsstrategien. Ironisches Frotzeln steht hier nicht zuletzt im Dienst der Konfliktvermeidung. Familie Schmidt bildet jedoch keine ideale Sprechergemeinschaft. Das Machtgefälle ist asymmetrisch, das Wort des einen gilt meist mehr als das des anderen, während Sohn Erich häufig gar ignoriert wird. Aber auch Vater Schmidt, der gern weisheitliche Belehrungen von sich gibt und Erfahrungswissen beansprucht, kann dies nur anbringen, wenn allgemein die Bereitschaft signalisiert worden ist, belehrt werden zu wollen. Während die Unterhaltungen der Familie Schmidt durch vielfältige Konfliktvermeidungsstrategien gekennzeichnet sind, kommt es bei den Müllers häufig zum Streit. Die Auseinandersetzungen sind – weit über den jeweiligen Konflikt hinaus – Arbeit an der Ausbildung der Beziehungsstrukturen untereinander. Dank ihres souveränen Umgangs mit dem Material gelingt Angela Keppler die mühelose Verknüpfung der familiären Besonderheiten mit ihrem spezifischen Forschungsinteresse an der sozialen Veranstaltung Tischgespräch.

Auch bei Tisch stehen häufig Medien im Gesprächsmittelpunkt, für die Autorin ein bedeutsamer Untersuchungsgegenstand für die private Aneignung öffentlicher Verhaltensmuster und Wissensbestände. Die dämonische Macht des Fernsehens, die der Face-to-face- Kommunikation angeblich den Garaus macht, kann Keppler anhand ihres Materials nicht erkennen. An einer Show wie „Verstehen Sie Spaß?“ wird bei den Schmidts zunächst die Machart reflektiert, ehe man auf ein anderes Thema übergeht. Der Umgang mit Medienprodukten ist distanziert und distanzierend zugleich. En passant gibt Angela Keppler eine Empfehlung für die Medienwirkungsforschung: „Allein daran, wie Medieninhalte in alltägliche Gespräche Eingang finden, können wir über die alltägliche Moral – und die alltägliche Macht – der Medien Aufschluß erhalten.“ In den untersuchten Beispielen stehen Medienthemen vor allem im Dienste des Gesprächsflusses. Auffällig lange Rekonstruktionen, in denen sogar Szenen nachgespielt werden, dienen, so Keppler, als Resonanzboden des familiären Gemeinschaftsbewußtseins. Der Rückgriff auf Medien erweitere die Reichweite familiärer Themen, ohne die Struktur der Familiengespräche gleich gänzlich zu verändern. Vor dem familienspezifischen Gesprächsstil sind alle Themen gleich.

Das eigentliche Thema aller Tischgespräche ist letztlich jedoch die Selbstthematisierung der Gemeinschaft. Die Familien erzählen sich fortwährend ihre eigene Geschichte, die episodisch aufgebaut ist und so vielfältige Anschlußmöglichkeiten bietet. Die Einheit einer Familiengeschichte besteht dabei nicht aus einem großen Ganzen, „sondern in der Kontinuität der Gelegenheiten und Akte des gemeinsamen Sich-Erinnerns“. Es sind weniger Ideologien und Wertvorstellungen, die in der Familie erfolgreich weitergegeben werden; in den Streits und Diskussionen des vorgelegten Materials kommen die Familienmitglieder nur selten zu gemeinsamen Lösungen. Auch wird in der Familie kaum ein Konsens über moralische Grundsätze und gemeinsame Ziele hergestellt. Vaters Belehrungen und Mutters Geschmacksvorgaben halten vielmehr in erster Linie das Gespräch im Fluß.

Und so, lautet Kepplers Schluß, ist die Familie nicht zwangsläufig die Brutstätte kruder Wertvorstellungen, sondern eine Bühne des Austauschs mit ständig wechselndem Repertoire und inhaltlicher Belanglosigkeit als Programm. Sie ist der Ort, an dem die Praxis kommunikativen Verfahrens eingeübt wird. Das Funktionieren der Gespräche mit häufig banalem Inhalt ist schon ihr ganzer Sinn.

Angela Keppler: „Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1994, 300 Seiten, 22,80 DM

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