■ Über den Sinn der Feier großer Jahrestage
: Alles feierlich begehen

Die Gedächtnisfeier des fünfzigsten Jahrestages der Landung in der Normandie und der Befreiung spielt sich auf einem weiten Territorium ab, dessen Erinnerungs- spuren zum Anlaß eines wahren Kriegstourismus wurden. Sieht man von diesem kommerziellen Aspekt ab, so ist es das Ziel der Pilgerfahrten zu dem Freilichtmuseum Normandie, die Emotionen wiederzufinden, die vom Widerstand gegen das Vergessen provoziert wurden.

Dieser Akt des gemeinsamen Sich-Erinnerns hat stets den gleichen Sinn: Er heiligt die großen, gemeinsam geteilten Werte. Der 200. Jahrestag der Französischen Revolution zelebrierte die Vorreiterrolle, die Frankreich bei der Durchsetzung der Bürger- und Menschenrechte gespielt hat. Der Jahrestag rief intellektuelle Energien wach und setzte eine kulturelle Dynamik frei, die in einem feierlichen Akt der Erinnerung an den Sieg der Freiheit in der menschlichen Geschichte gipfelte und symbolisch die Grundregeln der Demokratie bekräftigte. Der Akt der Erinnerung wird, unabhängig von dem unterschiedlichen Sinn, den ihm die Teilnehmer geben, als „Rückruf des Anfangs“ erlebt, als Rückkehr zu den Ursprüngen der Gemeinschaft selbst. Indem exemplarische Ereignisse wieder inszeniert werden, stiftet der Rhythmus der großen Jahrestage den öffentlichen Raum für die Weitergabe menschlicher Werte.

Die gemeinsame Gedächtnisfeier zeigt, daß wirklich entscheidende historische Ereignisse nach wie vor eine bedeutende symbolische Funktion entfalten können. Kraft dieser Symbolisierung wird ein Konsens erreicht, der die gemeinsame Überzeugung vom Wirken der Humanität in der Geschichte rettet. Aber die gleiche Symbolisierung hat auch einen täuschenden und verblendenden Effekt gegenüber der Gewalt, die in zahlreichen Konflikten der heutigen Welt präsent ist. Die unmögliche Einheit in der Gegenwart wird verdunkelt durch die Zelebrierung der Einheit in der Vergangenheit. Die gemeinsame Erinnerung schafft so das Trugbild einer idealen Solidarität und bietet die Ausflucht des Mythos von der „großen Gemeinschaft“.

Ob die Tatsachen innerhalb der realen Zeit oder im Imaginären wiedererlebt werden, macht wenig aus. Die Rekonstitution der Geschichte beugt sich den Notwendigkeiten der Gefühlsmaschine. Jede Zeremonie, die einer großen Erinnerung gewidmet wird, bezeugt die Ohnmacht der Erinnerungen, indem sie ein kollektives Ergriffensein wiederbelebt. Jedes Ereignis, das die Essenz der Gemeinschaftlichkeit zum Ausdruck bringt, ist notwendigerweise auch gemeinschaftsbegründend: sich gemeinsam erinnern heißt einen Beginn heiligen und ihn zum Symbol der Zukunft erheben. Die Politiker bedienen sich meisterhaft dieses Spiels, um die Souveränität ihrer Macht zu bestätigen. Die Manipulation kollektiver Emotionen verwirklicht sich in der Glorifizierung von großen Schicksalsfiguren, seien sie nationaler oder supranationaler Herkunft. Diese Manipulation erlaubt es, eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Zukunft zu ziehen – jenseits allen vergangenen Streits. Immer geht es um den Sieg der Freiheit, der Menschenrechte, grundlegender Werte ...

Die Erinnerungsmaschine verwendet populistische Prinzipien, die die Vielschichtigkeit individueller Leidenschaften hinter sich lassen, um dem Aufstieg zum Gemeinschaftsgeist die nötige Weihe zu verschaffen. Am Anfang jeder Bürgertugend steht das Bedürfnis, gemeinsam für das menschliche Gut zu arbeiten – das ist der einfache Zauberspruch. Der wirkliche Feind ist die primitive Horde, die die symbolische Ordnung der Vermittlung zerstört. Die Verneinung dieser Ursprungsgewalt steht noch im Zentrum jeder der feierlichen Veranstaltungen, die die ideale Einheit der Geister preisen.

Diesem Bestehen auf der universellen Gültigkeit der Werte haftet eine gewisse Obszönität an. Die Illusionen des Konsenses werden schließlich über das große Spektakel der Gedächtnisfeier bestätigt: Die Inszenierung mag die historischen Ereignisse authentisch wiedergeben oder nicht, sie muß in jedem Fall dem ostentativ Künstlichen ihren Tribut entrichten. Trotz des beschworenen Respekts den Toten gegenüber nimmt die Gedächtnisfeier eine Wendung zum Kitsch. Sie will Zeugnis ablegen und entgeht doch nicht der schwindelerregenden Maskerade. Da es darum geht, ein möglichst breites Publikum von der einzigartigen Größe des Ereignisses zu überzeugen, sind alle Mittel recht, um Nutzen aus den erhaltenen kollektiven Erinnerungen zu ziehen.

Aber diese kommerziellen Kleinkriege können offenbar den Glorienschein der Gedächtnisfeier nicht trüben. Was zählt, ist die Dynamik der spektakulären Wiedergabe der Ereignisse. Sie soll uns überzeugen, daß die Erinnerungen sehr wohl lebendig und keineswegs versteinert sind. Jeder hat Anrecht auf seinen Bericht, niemand wird seiner Möglichkeiten, sich zu erinnern, beraubt. Denn die Gedächtnisfeier bedient alle Phantasien. Sie kann immer wieder unter einem neuen Gesichtspunkt gesehen werden – ganz nach dem guten Willen aller oder jedes einzelnen.

Man glaubt ja allzu schnell, die Ereignisse zu beherrschen, sobald sie einmal der Vergangenheit angehören. Ihr Sinn scheint uns um so einsichtiger, als die Reversibilität der Geschichte ihre Neuinterpretation rechtfertigt. Die Gedächtnisfeier bestätigt, daß die Ereignisse nicht neu sind, daß sie sich jederzeit zu wiederholen drohen. Mit einer gewissen Scheu gibt man sich denn der Illusion hin, ihre Tragweite nun besser zu begreifen. Heutzutage überstürzen sich die Ereignisse in einem Tempo, daß sie immerzu auftauchen und verschwinden – ganz im Rhythmus ihrer medialen Präsentation. Bald entschwinden sie unserer Wahrnehmung, bald dienen sie uns als Beweisstück, um unsere Ohnmacht zu konstatieren. Wenn eines von ihnen auf der internationalen Bühne hervorgehoben wird, ist ein „historischer Tag“ angesagt.

Die „historischen Tage“ aber gleichen sich immer mehr, als ob die mediale Exhibition der Geschichte uns zu Zuschauern der ewigen Dekonstruktion des Sinns machen würde. Die Gedächtnisfeier spielt dann also die Rolle einer Kristallisation der kollektiven Erinnerungen in einem wiedergefundenen Sinn. Sie wird zu einem Mittel, die Tragödie der Geschichte zu antizipieren, indem sie ihr über ihre offizielle Einschreibung in eine überkommene Logik einen scheinbaren Ausweg anbietet. Dann aber müßte es dem Akt der Erinnerung gelingen, schneller als das Ereignis selbst zu sein! Das schwindelerregende Vor und Zurück in der Geschichte rührt von dieser Überhöhung gemeinsamer Erinnerungen auf der Suche nach symbolischen Zeichen her. Theoretisch kann jedes gegenwärtige oder künftige Ereignis, wie vorübergehend es auch sein mag, Gegenstand einer Gedächtnisfeier werden. Es genügt, das Gegenwärtige als bereits Vergangenes zu behandeln. Ihre Macht gewinnt die Gedächtnisfeier gerade dadurch, daß sie das Ereignis schafft, indem sie die symbolische Fracht eines ursprünglichen Fakts aufgreift. Und so dient dieses plötzlich dazu, die Sinnesleere, die die Geschichte hinterläßt, zu rechtfertigen, indem es sie mit allen Artefakten einer feierlichen Neuinterpretation auffüllt. Henri-Pierre Jeudy

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de Recherches Scientifiques (Paris)

Mit freundlichem Dank entnommen aus:

„Libération“, 6.6.94; Übersetzung: C.S./thos