Von der Reform bleibt nur ein Reförmchen

Heute berät das Parlament in erster Lesung über die Verfassungsreform / Von den ursprünglichen Zielen ist kaum etwas übrig geblieben, an die moderne Ostberliner Verfassung vom Sommer 1990 kann sich kaum jemand erinnern  ■ Von Kordula Doerfler

Am 11. Juli 1990 herrschte in der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung Aufbruchsstimmung. Mit der Mehrheit aller Fraktionen wurde ein Papierberg verabschiedet, auf den man nicht zu unrecht stolz war. Binnen zwei Monaten hatten die erst am 6. Mai gewählten Stadtverordneten es nach heftigen Kontroversen geschafft, die erste demokratische Verfassung für Ostberlin unter Dach und Fach zu bekommen. Dem großen Zeitdruck ihres Entstehens geschuldet, mußte diese Verfassung in vielen Teilen Stückwerk bleiben. Daß sie dennoch in vielen Teilen moderner war als das in Westberlin geltende Gegenstück, war wohl die größte Leistung in der kurzen Geschichte des Stadtparlaments. So waren etwa ein kommunales Ausländerwahlrecht und eine Fristenregelung verankert, Umweltschutz als Verfassungsauftrag festgeschrieben. Grundgedanken des Umbruchs in der DDR wie die Beteiligung von Bürgerinitiativen am parlamentarischen Prozeß fanden unmittelbaren Niederschlag.

Wenn heute, fast vier Jahre später, der von einer Enquete-Kommission ausgearbeitete Entwurf für eine Reform der Berliner Verfassung zur ersten Lesung ins Parlament geht, scheint die Aufbruchsstimmung vom Sommer 1990 in einem anderen Zeitalter zu liegen. Und die Gründe, warum die Verfassung reformiert werden soll, dürften einem Großteil der Bevölkerung völlig aus dem Gedächtnis entschwunden sein.

Verfassungsfragen sind Machtfragen, erkannte schon der Ahnherr der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lasalle. Von Anfang an war klar, daß die Ostberliner Verfassung nur begrenzte Gültigkeit haben würde. Zwar stand bei ihrer Verabschiedung der Wahltermin für die ersten gesamtberliner Wahlen nach der Einheit, zeitgleich mit der Bundestagswahl am 2. Dezember, bereits fest. Daß sie jedoch so schnell in den Schubladen verstauben würde, hatten sich die Ostberliner Abgeordneten nicht vorgestellt. Ende November, auf der letzten Sitzung der Stadtverordnetenversammlung, bedauerte die „Vorsteherin“, die heutige Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD): „Jetzt geht die Arbeit doch erst richtig los.“ Seine Lektion Parlamentarismus habe das Gremium erfolreich absolviert.

Doch die politisch Verantwortlichen im Westteil der Stadt waren da anderer Meinung. Von vornherein wurde die Ost-Verfassung vor allem von seiten der CDU mitleidig belächelt, doch auch die Vorbehalte der regierenden SPD waren groß. Um die Frage, welche Verfassung denn in einem künftigen Gesamtberlin gelten sollte, entbrannte heftiger Streit. Während sich die Ostseite bis zuletzt Hoffnungen machte, daß ihre Verfassung gleichberechtigt in den Vereinigungsprozeß eingehen würde, wurde von westlicher Seite eine andere Rechtsposition favorisiert – und durchgesetzt. Analog zum Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes sollte auf der konstituierenden Sitzung eines Gesamtberliner Parlaments die bis dahin geltende Westberliner Verfassung auf ganz Berlin erstreckt werden. Sie war 1948 auf der letzten Sitzung der damaligen Stadtverordnetenversammlung beschlossen worden, galt nach der Teilung von 1950 aber nur noch in den westlichen Besatzungszonen.

Die Bürgerbewegungen, die Grünen und die PDS forderten zwar die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung, hatten damit aber keine Chance. Stattdessen wurden von beiden Stadtparlamenten sogenannte Einheits-Ausschüsse gebildet, die sich regelmäßig trafen, um eine neue Gesamtberliner Verfassung auszuarbeiten. Doch was als Ankündigung schon nur halbherzig gemeint war, geriet in der Praxis noch magerer. Nur wenige Gedanken der Ost-Verfassung blieben übrig im Papier mit dem schönen Namen „FKK“-Entwurf – benannt nach den Initialen der maßgeblich beteiligten West-Abgeordneten Klaus Finkelnburg (CDU), Erhart Körting (SPD) und Renate Künast (AL). Regierende und Volksvertreter im Ostteil der Stadt wurden mit der staatlichen Einheit am 3. Oktober zu Marionetten des Westens. Als am 11. Januar 1991 in Berlin ein weiteres „historisches Ereignis“ stattfand, die erste Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses in der Nikolaikirche, hatte sich die Umbruchsstimmung des Sommers verflüchtigt. Die West- Berliner Verfassung wurde mit kleinen Änderungen und der notwendigen Zweidrittelmehrheit für ganz Berlin in Kraft gesetzt, allerdings sollte sie bis zum Ende der Legislaturperiode 1995 von einer Enquete-Kommission überarbeitet und dann in einer Volksabstimmung beschlossen werden.

Doch die Große Koalition hatte keine Eile. Die CDU machte keinen Hehl daraus, daß ihr an einer Verfassungsreform wenig lag, obwohl sie in den Koalitionsvereinbarungen mit der SPD festgeschrieben war. Und auch die SPD, die immerhin eine Reform in Gang bringen wollte, betrieb sie dennoch nicht konsequent. Mehr als ein Jahr dauerte es, bis im März 1992 die 27köpfige Enquete-Kommission eingesetzt wurde. Und sie brauchte noch einmal zwei Jahre, um vergangene Woche endlich ihren Entwurf zu präsentieren.

Zwar konnten SPD und Bündnis 90 / Die Grünen geringfügige Änderungen etwa im Grundrechtskatalog oder die Einführung von plebiszitären Elementen wie Volksentscheid und Volksbegehren durchsetzen, ob sie jedoch tatsächlich in der Verfassung verankert werden, ist fraglich. Denn in der Kommission müssen Beschlüsse nur mit einfacher Mehrheit gefaßt werden, im Parlament ist jedoch eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Außerdem hat der Entwurf nur empfehlenden Charakter. Das Minderheitenvotum der CDU-Rechtsexperten, der Professoren Albrecht Randelzhofer, Rupert Scholz und Dieter Wilke, läuft auf eine Ablehnung fast aller Änderungen hinaus.

„Viele der politisch wichtigen Änderungen werden wohl keinen Bestand haben“, mußte der für die SPD in der Kommission sitzende Abgeordnete Alexander Longolius einräumen. Drastischer formulierte es sein Kollege Rolf-Peter Magen von der FDP, die allerdings kaum mehr Leidenschaft für die Reform entwickelte als die CDU. Denn mit der geplanten Vereinigung von Berlin und Brandenburg, so Magen, gehe die Verfassungsdiskussion von vorne los: „Ich glaube, es ist etwas fürs Archiv.“