Oioioi Moschiach!

So viel Ankunft war noch nie – ein neuer Messianismus mit High-Tech-Netzwerk von Brooklyn über Paris bis nach Jerusalem. Die utopische Zielgerade ist allerdings flötengegangen  ■ Von Mariam Niroumand

Mitten auf dem Boulevard Poissonière, zwischen Fast-food-Hallen und dem Max-Linder-Panorama fand vergangene Woche eine seltsame Versammlung statt. Schon im Treppenhaus sangen die Gäste und taten kleine Hüpfer, im Versammlungsraum selbst stand schon Stunden vor Beginn ein Pulk in schwarzen Hüten, Bärten und Gebetsschals und wippte murmelnd. Hey! Forsche junge Dame aus Berlin, pflanzte ich mich zunächst mopsig auf irgendeinen der freien Sitze, bis ein derartiges Blickgedonner auf mich niederging, daß ich einfach merken mußte, dies war die Männerseite. Husch, hinüber zu den Frauen, die unter schweren Perücken hinter ihrer Papptrennwand saßen und leise ihre eigenen Gebete sprachen. Aus dem Rekorder immer wieder derselbe Song: „Oioioi Moschiach, Moschiach unser König!“ Dann wurde es dunkel.

Ein Video mit schönem Gruß aus Brooklyn zeigt den 92jährigen Rabbiner der Lubavitcher – eine ultraorthodoxe Frömmigkeitsbewegung, die im 18. Jahrhundert im russischen Lubavitch entstand – und dieser Rabbiner, Menachem Mendel Schneerson, der nach einem Schlaganfall vor anderthalb Jahren nicht mehr sprechen, sondern nur noch ab und an steif grinsend in die Kamera winken kann, soll nun der lang erwartete Messias sein. Die Beweise: Der Fall des Kommunismus, die Rückkehr russischer Juden nach Israel, die relative Unversehrtheit, mit der Israel aus dem Golfkrieg hervorgegangen ist, und der Airlift, mit dem 80.000 nordafrikanische Juden über Nacht in Sicherheit gebracht wurden. Mit Bedacht hält man sich, unter all den Schriften, die es zum jüdischen Messianismus gibt, vor allem an die von Maimonides, der bei den Orthodoxen hübscherweise „Rambam“ heißt, denn bei ihm ist nicht von einem großen kataklystischen Ereignis die Rede, sondern eher von einer Reihe kleinerer, für sich genommen undramatischer Vorstufen – so daß es einstweilen nichts weiter ausmacht, wenn sich so gar nichts wirklich Erlösungsmäßiges tut. Vom Eastern Parkway in Crown Heights, Brooklyn, wo sich das Welthauptquartier der Lubavitcher befindet, fahren sie mit „Mitzvah Tanks“ und „Mitzvah Mobiles“ ins Land, aus denen sie Gebetsschals, Literatur, Videos und Mezzuzot verkaufen, kleine Kapseln mit Pergamentrollen, auf denen Passagen aus dem Buch Mose stehen – man heftet sie an die Haustür. An manchen Autobahnen, auf Plakaten und Neonschildern wird der Messias schon begrüßt; in der New York Times schalteten die Headquarters neulich eine ganzseitige Anzeige, „The Time for Your Redemption Has Arrived: Moschiach, Be Part of It“, aber im Text sind an manchen Stellen nur Pünktchen: „Draw Yor Own Conclusion“, heißt es darunter, denn noch ist die Mitteilung, daß er es tatsächlich ist und daß sein Coming-out unmittelbar bevorsteht, nicht offiziell. Schneerson selbst hat bis vor seinem Schlaganfall alle Ansinnen in dieser Richtung mehr oder weniger entschieden zurückgewiesen, inzwischen wiegt er, wenn der Eastern Parkway sich ihm zu Ehren versammelt hat und die riesige Synagoge mit dem Moschiach- Song erzittert, wohlwollend das Haupt. Er gibt ein Zeichen, und der Vorhang um seinen Balkon herum wird zugezogen. „Das merkwürdige ist“, schrieb ein Beobachter im Januar letzten Jahres in der NYT, „daß wir es mit einem Rebbe zu tun haben, der zugleich tot und lebendig ist. Ich meine, alles was er tut, ist eine Sache der Interpretation. Alles hängt davon ab, wer interpretieren darf.“ Daß die Sache in Brooklyn funktioniert, wo 30.000 Lubavitcher in einem von säkularen Juden zwar absolut abhängigen, aber doch in sich geschlossenen Zusammenhang leben, mag ja einleuchten – aber in Paris?

Dort liegen die Dinge ein wenig komplizierter. Während die Lubavitcher im wesentlichen ein Phänomen aus Jiddischland sind – geboren in Rußland, gewachsen in Warschau, vor der Vernichtung gerettet nach Crown Heights – sind die Anhänger Schneersons in Frankreich vor allem Juden aus dem Maghreb, aus Algerien, Tunesien und Marokko, die nach der Unabhängigkeit der Kolonien oder im Zuge der israelisch-arabischen Konflikte aus ihren Heimatländern ausgewandert oder vertrieben worden waren. Ihre Eltern waren zwar in aller Regel auch praktizierende, streng gläubige Juden, aber „sie wußten nicht, warum man koscher essen oder den Sabbat heiligen muß“, erklärte mir die Herausgeberin eines Handbuchs zum Quellenstudium in Sachen Messias. Während ihre Eltern auch in den Kolonien schon vor der Einwanderung in erster Linie um die Französisierung bemüht waren – nach dem aus der deutschen jüdischen Aufklärung stammenden Motto „ein Bürger auf der Straße, ein Jude zu Haus“ – haben sie sich in den siebziger Jahren wie andere auch zurück zur Tradition gewandt. Der romantische Antikapitalismus, der in den Sechzigern, Siebzigern die Kinder der osteuropäischen Juden wie Alain Finkielkraut in die Kämpfe der dritten Welt trieb, oder wieder andere in die Makrobiotik (Gott sei ihrer armen Seele gnädig), ließ die Kinder der frisch Assimilierten die Orthodoxie suchen. Manche von ihnen lernen Jiddisch, besuchen eine Jeschiwa, eine Art religiöser Volkshochschule und lernen mitunter nur das absolute Minimum an Französisch – von anderen säkularen Wissensgebieten wie Geschichte oder Biologie ganz zu schweigen (ein Umstand, der ihnen im laizistischen Frankreich sehr viel Ärger eingetragen hat und der islamischen „Kopftuchaffaire“ in nichts nachsteht). Zu den großen jüdischen Feiertagen, am Pessach Seder zum Beispiel, hört man mitunter an einem Tisch vier Sprachen: die Großmutter, mit der alle arabisch sprechen, das Jiddisch des Rabbiners, Französisch der Eltern und Hebräisch mit den Verwandten aus Israel, die, eben um nicht in die Assimilation zu müssen, 1967 in den jüdischen Staat gezogen sind.

Man findet erstaunlich viele Parallelen zur Situation in Deutschland um 1880: als die einen versuchten, den Goyim das Judentum als eine Kultur, eine Zivilisation und keineswegs eine bedrohliche, partikularistische Nation schmackhaft zu machen, wehrten sich die (weniger assimilierten) gegen den vermeintlichen Ausverkauf. Die Insistenz auf Differenz, eine Folge auch der Theorieentwicklung in den Siebzigern, beruft sich wie weiland Gerschom Scholem auf die Kabbala einerseits und die Erfahrungen mit den Goyim andererseits: Dreyfuß ist den Orthodoxen ebenso ein Argument wie Vichy, auch wenn nur selten offen darüber geredet wird. Sie singen die Marseillaise zu einem hassidischen Rhythmus, und vom bloßen Sound weiß man, daß da nicht affirmiert, sondern dekonstruiert, gewarnt wird vor dem Untergang in der Emanzipation.

Natürlich spielt, gerade in den heruntergekommenen Banlieus vor Paris wie zum Beispiel der Betonburg Sercelle, die Distinktion gegenüber den anderen Arabern eine Rolle. Was den Assimilierten um die Jahrhundertwende das Jiddisch war – der Gettoslang, die Sprache der Armut, des Pariah –, das ist den Immigranten aus dem Maghreb das judeo-arabe; für sie ist plötzlich eben Jiddisch oder Hebräisch wieder eine Sprache, die sie vom unterlegenen Afrika hoch nach Europa hievt. Neulich gab es in Sercelle eine Massenschlägerei, deren Anlaß war, daß sich ein junges Mädchen aus einer Lubavitch- Familie in einen schwarzen Mann von den Antillen verliebt hatte. Als ihr Bruder die Liäson beenden wollte, rückte eine Straßengang an. Man schlug sich, die Polizei kam, konnte aber nichts ausrichten, der local Rabbi traf ein, aber erst, als auch der Einbeter der Antillengemeinde eingetroffen war, beruhigte sich die Szene.

Gegen solcherlei Auflösungsdrohungen bietet der Messianismus einen recht kräftigen und vergleichsweise fröhlichen Kitt. So kommt es, daß er so seltsam blutleer scheint, daß ihm der utopische Gehalt, den sowohl Buber als auch Benjamin, Scholem oder noch Adorno ihm entlockten, irgendwie abhanden gekommen ist: er ist sich selbst genug. Das letzte Residuum dieses Utopischen ist vielleicht dieses eigentümliche Stillstellen der weltlichen Zeit, die kleine Flucht nach außerhalb der Geschichte, in dem Kleidung, Sprache und Habitus der Lubavitcher rund um den Globus und durch die Zeiten hindurch gleich bleiben, aber sonst? Nicht auszudenken, was passiert, wenn Schneerson stirbt. Schon jetzt werfen viele Sympathisanten den Lubavitchern vor, eine christliche Religion geworden zu sein, die sich auf Gedeih und Verderb einer einzigen Person ausgeliefert und die kritzelige Lebendigkeit vor allem des prophetischen Judentums eingefroren hat. Schneersons Tod kann eigentlich nur noch größere Halluzinationen auslösen.