Major rechnet mit dem Schlimmsten

Die Torys werden heute nicht nur bei den Europawahlen untergehen – auch bei der gleichzeitigen Nachwahl in Eastleigh könnten sie einen weiteren Parlamentssitz verlieren  ■ Von Ralf Sotscheck

Dublin (taz) – Der britische Premierminister John Major versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Bei einer Wahlveranstaltung im West-Londoner Bezirk Hammersmith erklärte er vorgestern die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ (OECD) zum Verbündeten. Die OECD habe die britische Wirtschaftspolitik der vergangenen 15 Jahre eindeutig gutgeheißen: „Die sind der Meinung, daß unsere Politik sowohl für kurzfristigen als auch langfristigen Wohlstand richtig ist“, sagte Major. Dagegen habe die Organisation die „teuren sozialpolitischen Maßnahmen kritisiert, die Europas Wettbewerbsfähigkeit zerstört haben“.

Nach 15 Jahren Tory-Herrschaft, in denen sich die Arbeitslosenzahlen verdoppelt haben, kann Major niemanden mehr hinter dem Ofen vorlocken – auch nicht die Tory-StammwählerInnen. Die werden laut Umfragen heute bei den Europawahlen zu Hause bleiben. Major warnte, daß sie mit dem Feuer spielen, wenn sie ihr Kreuzchen verweigerten: „Beschwert euch nicht bei mir, wenn eine sozialistische Mehrheit in Brüssel dann Ausgaben und Steuern erhöht und sich in jeden Winkel eures Lebens einmischt.“

Major muß heute mit dem Schlimmsten rechnen. Von den 32 Europaabgeordneten der Torys bleibt wahrscheinlich nur die Hälfte übrig, verschiedene Zeitungen prophezeien gar ein Debakel. Fällt die Zahl unter 15, sind Majors Tage wohl gezählt. Seine Gegner sitzen schon in den Startlöchern, um ihn auf dem Parteitag im Oktober zu stürzen.

Wohlweislich hat Major dafür gesorgt, daß heute auch die parlamentarische Nachwahl im südenglischen Eastleigh stattfindet: Eine Niederlage, so hofft der Premierminister, werde aufgrund der Europawahlen weniger Aufsehen erregen. Die Nachwahl ist durch den Tod des Tory-Abgeordneten Stephen Milligan notwendig geworden, der sich im März versehentlich selbst erdrosselt hat.

Unter normalen Umständen wäre Eastleigh ein Heimspiel für die Torys, da Südengland vom Thatcherismus zunächst profitiert hatte. Die Stadt ist typisch für die Region: saubere Straßen, gepflegte Vorgärten, niedrige Kriminalität, kaum Drogenprobleme und nur sechs Prozent Arbeitslose. Doch das wird sich demnächst ändern: Das Transportministerium hat die Wartungswerkstatt der britischen Eisenbahn, einen der Hauptarbeitgeber Eastleighs, sowie fünf weitere Staatsunternehmen derselben Branche zum Verkauf angeboten. 1.100 Jobs stehen auf dem Spiel. Hinzu kommt die Symbolkraft: Die Eisenbahn ist der Grund dafür, daß die Stadt entstand. So steht der Tory-Kandidat Stephen Reid, der eine Mehrheit von 17.000 Stimmen verteidigen muß, vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Der Sitz wird wohl – wie im vergangenen Jahr bei Nachwahlen in zwei Nachbarstädten – an die Liberalen Demokraten gehen.

Bei drei weiteren Nachwahlen in Ost-London sind dagegen die Labour-Kandidaten ungefährdet. Die Partei konzentriert sich deshalb auf den Europawahlkampf, den sie mit innenpolitischen Themen führt: Steuern und „Law and Order“, beides traditionelles Tory- Terrain. So ändern sich die Zeiten. Ralf Sotscheck