„Kriminalitätsfurcht läßt sich herbeireden“

■ Henning Scherf, Bremer Justizsenator und Mitglied im Bundesvorstand der SPD, geht mit den Vorschlägen seiner Partei zum „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ hart ins Gericht:: „Die SPD kann den Wettbewerb um Law und Order nur verlieren“

Mit eindrucksvollen Zahlen belegt der Werbespot zur Europawahl das Versagen der Bundesregierung: „Die Bilanz der Regierung Kohl der letzten fünf Jahre: Autodiebstähle: + 58, Drogendelikte: + 45, Raubüberfälle + 95 Prozent. Immer mehr Menschen haben Angst ... Schluß damit. Sicherheit statt Angst.“

An der Wahlwerbung ist fast alles falsch. Erstens sind unkommentierte Kriminalitätszahlen generell unzutreffend, zweitens sind diese Zahlen nicht verbürgt, verläßliche Statistiken belegen einen weitaus geringeren Kriminalitätszuwachs (für Raubüberfälle beträgt er tatsächlich 49 Prozent), und drittens, was kann der Kanzler dafür? Denn für Polizei und Staatsanwaltschaft, für die Sicherheit auf unseren Straßen und in den Justizvollzugsanstalten sind die Länder zuständig.

Der reißerische Werbespot wirbt nicht etwa für eine der zahlreichen rechtsextremen oder bürgerlichen Splitterparteien, sondern ausgerechnet für die SPD. Inzwischen haben beide großen Parteien das Sicherheitsbedürfnis der Wählerschaft entdeckt. Offenbar ratlos sind sie gegenüber den sozialen Herausforderungen an die Politik: Massenarbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Perspektivlosigkeit der Jugend, daraus resultierende Zunahme von Gewaltbereitschaft, Drogenelend und Prosperitätsunterschiede in Ost und West. Wenn schon die soziale Sicherheit abhanden kommt, will man wenigstens dem Bedürfnis der Bevölkerung nach „innerer“ Sicherheit entgegenkommen. Koalitionsfraktion und SPD haben zu diesem Zweck mit dem „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ und dem „Zweiten Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität“ schwere Waffen aufgefahren.

CDU und FDP wollen neben vielem anderen ein Schnellverfahren ohne Beweisantragsrecht der Verteidigung, dafür aber mit einwöchiger „Hauptverhandlungshaft“ einführen. Sie wollen außerdem die bisher für Betäubungsmitteldelikte und terroristische Straftaten geltende Kronzeugenregelung auf all jene Delikte ausdehnen, die als typisch für die Organisierte Kriminalität gelten. Und sie wollen den Bundesnachrichtendienst zur Strafverfolgung einspannen – er soll dafür seine Telefonüberwachungskapazitäten einsetzen. Die SPD will die Telefonüberwachung beträchtlich ausweiten. Sie schlägt eine Grundgesetzänderung zum sogenannten „Großen Lauschangriff“ in Wohnungen mitsamt Ausführungsgesetz vor und will ein völlig neues Verfahren zur Beschlagnahme „verbrecherisch bemakelter Vermögen“ unabhängig von einem Strafverfahren und ohne Geltung der Unschuldsvermutung einführen.

In der Wissenschaft und bei den professionell mit dem Strafrecht Befaßten stoßen beide Entwürfe auf einhellige Ablehnung. Strafrechtslehrer und Richtervereinigungen, Strafverteidiger, Anwaltsvereine und die sonst sehr zurückhaltende Bundesrechtsanwaltskammer haben vernichtende Kritik geübt. Meist wird die Ernsthaftigkeit des Anliegens bezweifelt, allzu offensichtlich verfolgen die Verfasser des Entwurfs eher wahlkampftaktische als kriminalpolitische Ziele. Das wird besonders deutlich an der Debatte um den strafprozessualen Lauschangriff. Der Aufwand, mit dem sie geführt wird, steht in absurdem Mißverhältnis zum voraussehbaren kriminalistischen Ertrag. Die Zumutung, für ein derartiges „Kampfgesetz“ wieder ein Grundrecht zu opfern, treibt die Strafrechtler auf die Barrikaden. Nach der hektischen Anti-Terrorgesetzgebung der siebziger Jahre hatte mancher gehofft, für Strafrecht und Strafprozeßrecht würde eine ruhige Zeit überlegter und von gründlichem Sachverstand getragener Reform eintreten. Stattdessen ist seit 1980 über das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung – wie der Münsteraner Strafrechtsprofessor Jürgen Welp beklagt – „eine Flut von 30 Gesetzen hereingebrochen“, die sämtlich Strafen verschärfen oder prozessuale Garantien beschneiden und Grundrechte einschränken.

Natürlich planen beide vorliegenden Gesetzentwürfe erneut umfangreiche Ausweitungen der Telefonabhörbefugnis. Die SPD will den Katalog von Straftaten um nicht weniger als 14 Tatbestände erweitern, bei deren Verdacht Abhöraktionen und – aufgrund einer Verweisung des Gesetze – auch Lauschangriffe und heimliche Video-Aufnahmen zulässig sind. CDU und FDP sind schon einen Schritt weiter: Alles, was durch den Äther gesendet wird, soll aufgefangen und nach bestimmten Signalen und Suchbegriffen durchgerastert werden. Denn gerade diejenigen, die man mit den Telefonaktionen in erster Linie fassen will, sind längst auf die kleinen Taschentelefone umgestiegen sind und zu deren Vorteilen zählt neben Handlichkeit und ständiger Verfügbarkeit auch eine hohe Abhörsicherheit. Und vor allem im Ausland zugelassene Funktelefone können nicht gezielt belauscht werden. Da sich die Kontrolle nicht auf einzelne verdächtige Personen konzentrieren kann, soll sie den gesamten Funktelefonverkehr erfassen und nach bestimmten Wörtern, Lauten oder Begriffen durchkämmen, womit auch das Abhören zu einer Fahndungsmaßnahme im Vorfeld des Verdachts wird.

Seit der Entdeckung der Organisierten Kriminalität als neuem Drohobjekt ist der Gesetzgeber aktiver als je zuvor. Obwohl, oder vielleicht sogar weil niemand recht sagen kann, was darunter zu verstehen ist – den Kriminalämtern und ihren wissenschaftlichen Instituten ist trotz jahrelanger angestrengter Suche bislang keine Definition des Phänomens geglückt – eignet sich der verwaschene Begriff „Organisierte Kriminalität“ hervorragend zum Schüren von Ängsten und zur Nötigung all derer, die auf Bewahrung der Verfassung und ihrer rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien bestehen. Die „Organisierte Kriminalität“ hat uns bereits verdeckte Ermittler, Kronzeugen, Rasterfahndung, optische und akustische Überwachungen, Langzeitobservationen und erweiterte Telefonüberwachungen eingebracht, und sie hat zu neuen Dimensionen von Grundrechtseingriffen bei der Strafverfolgung geführt. Fast alle nach dem 1993 in Kraft getretenen OrgKG zulässigen Fahndungsmethoden werden verdeckt und geheim ausgeführt, zum Teil basieren sie auf Täuschungen. Außerdem wird durch sie auf verschiedene Weise eine Vielzahl Unbeteiligter in Mitleidenschaft gezogen.

Während klassischerweise strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wie Verhaftung, Durchsuchung und Beschlagnahme nur zulässig waren gegen jemanden, der einer Straftat verdächtig ist, können Telefonaufzeichnungen und Langzeitobservationen, Lauschangriffe mit Richtmikrofonen und versteckten Kleinstsendern sowie Video-Überwachungen ausdrücklich auch gegen „Kontaktpersonen“ angeordnet werden, gegen Freunde, Arbeitskollegen, Rechtsanwälte, Geistliche von Verdächtigen. Einige der neuen Fahndungsmaßnahmen haben nicht einmal das Bestehen eines Verdachts zur Voraussetzung, sie dienen erst der Produktion des Verdachts.

Geheimermittlungen im „Vorfeld“ staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren sind traditionell Sache der Geheimdienste, die mit ihnen gemäßen Methoden Informationen sammeln, die zwar nicht gerichtsverwertbar, für geheimdienstliche Zwecke aber geeignet sind. Die Zusammenführung geheimdienstlicher Methoden mit polizeilichen Zwangsbefugnissen war kennzeichnend für die Geheime Staatspolizei des Dritten Reich. In der Bundesrepublik bestand daher über 40 Jahre Einigkeit darüber, daß das „Trennungsgebot“, d.h. die strikte organisatorische und funktionelle Unterscheidung von Polizei und Geheimdienst, ein wesentliches Merkmal des freiheitlichen Rechtsstaats sei. Ausgerechnet in einer Zeit, da Erkenntnisse über den DDR-Staatssicherheitsdienst – ebenfalls Geheimdienst und Polizei zugleich – den Wert des Trennungsgebots eindrucksvoll bestätigen, geht die gegenwärtige Gesetzgebung dies gleich von zwei Seiten an: Den Geheimdiensten werden strafprozessuale Aufgaben zugewiesen und die Polizei wird mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgestattet, womit wir sowohl einen polizeilichen Geheimdienst wie auch eine geheimdienstliche Polizei bekommen.

Doch neue Gefahren erfordern neue Instrumente und wenn sie eben beängstigende Ausmaße annehmen, müssen rechtsstaatliche Bedenken halt zurückstehen: Durch den „bedrohlichen“ Anstieg der Straftaten sieht Innenminister Kanther das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung „in erheblichem Maße beeinträchtigt“, die Bundestagsfraktion der SPD wähnt durch die Zunahme Organisierter Krimalität gar „die Grundlagen des rechtsstaatlichen und demokratischen Systems der Gewaltenteilung“ in Gefahr.

Den Beschwörungen der Politiker stehen die Feststellungen der Fachleute entgegen. Nachdem die Zahl der polizeilich registrierten Straftaten 1972 bis 1982 tatsächlich um 66,9 Prozent gestiegen war, nahm sie zwischen 1982 und 1992 nur um 13,7 Prozent zu. Die Gewaltkriminalität war in diesen 10 Jahren sogar rückläufig. Vor allem die als so bedrohlich empfundenen Tötungsdelikte – Mord und Totschlag – sind seit 1975 um ein Drittel zurückgegangen. Auch 1993 wurden – jedenfalls in den alten Bundesländern – gegenüber dem Vorjahr deutliche Rückgänge verzeichnet, z.B. in Hamburg um 7,6 und in Bremen um 5,3 Prozent.

Mit der tatsächlichen Zunahme der Kriminalität kann die gesetzgeberische Betriebsamkeit daher nicht begründet werden. Allenfalls mit der Furcht vor Kriminalität, die folgt nämlich ganz eigenen Gesetzen. Offensichtlich beruht dies auf dem, was Kriminologen als „Kriminalitätsparadox“ bezeichnen. Diejenigen fürchten sich am meisten, die den geringsten Anlaß dazu haben und umgekehrt. Alte Frauen sind objektiv am wenigsten von Kriminalität bedroht, haben aber die größte Furcht vor ihr, junge Männer haben am meisten zu befürchten, fürchten sich aber am wenigsten. Obwohl in Bochum und München etwa gleiche Kriminalität pro hunderttausend Einwohner herrscht, fühlten sich 1987 in Bochum 18,1 Prozent der Befragten „sehr unsicher“, in München im Jahr 1989 dagegen nur 6 Prozent. Überhaupt war die westdeutsche Bevölkerung mit dem „Schutz der Bürger vor Kriminalität“ ganz zufrieden; jedenfalls waren es 1978 – 44 Prozent, 1988 – 58 Prozent und 1990 gar 64 Prozent. Erst seit die Bonner Parteien die Organisierte Kriminalität und die Innere Sicherheit als Wahlkampfschlager entdeckt haben, geht es mit dem Sicherheitsgefühl der Bürger bergab. 1991 waren noch 15 Prozent und 1992 gar nur noch 10 Prozent mit der Inneren Sicherheit zufrieden. Mit anderen Worten: die Apologeten der Inneren Sicherheit schaffen sich ihre Anlässe selber.

Kriminalitätsfurcht läßt sich herbeireden und jede neue Diskussion in Bonn, jeder neue Gesetzesvorschlag treibt sie voran und bietet so gleich Anlaß für den nächsten. Für die Forderungen der Exponenten des „starken Staates“ gibt es nämlich keine Sättigungsgrenze, und wenn die großen Parteien weiterhin um die Führerschaft in Sachen innere Sicherheit streiten, wird am Ende das Superwahljahr 1998 von Diskussionen um die Abschaffung des Folterverbots und die Wiedereinführung der Todesstrafe beherrscht sein.

Noch sehr viel weiterreichenden „gesetzgeberischen Handlungsbedarf“ leitet Kurt Schelter, Staatssekretär im Bundesinnenministerium daraus ab, daß „Rauschgifthändler aus aller Welt auf deutschem Boden Fuß gefaßt haben (und) internationale Kfz-Schieberbanden ihr Unwesen treiben“. Daß diesen Mißständen vielleicht mit einer besseren Drogenpolitik begegnet werden könnte und daß gegen Autodiebstahl bessere Autoschlösser allemal mehr ausrichten als Grundgesetzänderungen, kommt ihm bei seiner Fixierung auf härtere Strafen, weniger Grundrechte und schnellere Gerichtsverfahren gar nicht in den Sinn.

Die SPD kann beim Wettbewerb um law and order nur verlieren. Schon ihr Parteitagsbeschluß zum Lauschangriff brachte sie an den Rand einer Zerreißprobe. Wenn sie darüber hinausgeht, wird sie – wie schon in der unseligen Asyldebatte – treue Anhänger verlieren, neue aber nicht hinzugewinnen. Denn Kompetenz in „Innerer Sicherheit“ wird traditionell den Konservativen zugebilligt, die dazu neigen, gesellschaftliche Konflikte mit repressiven Mitteln zu „lösen“. Zum traditionellen Selbstverständnis der Sozialdemokratie gehört es dagegen, die sozialen Ursachen von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit der Jugend, Wohnungsnot, Drogenelend und die daraus resultierende Zunahme gewaltsamer Konflikte und auch Kriminalität zu bekämpfen und soziale Sicherheit anzustreben. Daher wird ihr auch traditionell die größere Kompetenz in sozialen Dingen zugebilligt. Eine SPD, die zu konservativen Lösungen greift, und die nicht zuletzt von ihr selbst in einem 150-jährigen Kampf errungenen Freiheitsrechte für ein vermeintliches Mehr an „innerer Sicherheit“ opfert, gibt sich selbst auf und erkennt obendrein die Richtigkeit r konservativer Rezepte an, treibt den Konservativen die Wähler zu. Dabei werden die sich ins Fäustchen lachenden Konservativen zu Igeln, die die Sozialdemokraten in die Rolle des Hasen drängen, der sich im Wettstreit erschöpft, aber dennoch nie gewinnen kann.

So beruhigend die Zahlen der Wissenschaftler gegenüber der Bonner Panikmache sein mögen, so alarmierend müßte gerade für die SPD die Kriminalität sein, die tatsächlich zugenommen hat: Die Armuts- und Desintegrationskriminalität, vor allem auch die Beschaffungskriminalität Drogenabhängiger. Verdreifacht hat sich die Zahl der Straftäter ohne festen Wohnsitz und überproportional gestiegen ist die Eigentumskriminalität (Ladendiebstähle, Wohnungseinbrüche). Insbesondere vor dem „Tatmotiv Armut“ warnen Kriminologen wie der Hannoveraner Professor Christian Pfeiffer: „Wenn die Armut in Deutschland insbesondere unter den jungen Menschen weiter steigen sollte, muß auch in Zukunft mit einem Anstieg der Kriminalität gerechnet werden“. Die Bekämpfung dieser Art von Kriminalität wäre in der Tat eine klassische Aufgabe der Sozialdemokraten. Nur werden hier Strafverschärfungen und Einschränkungen der Grundrechte mit Sicherheit nichts bewirken, sondern allein eine reformierte Wirtschafts-, Sozial-, Jugend- und Drogenpolitik. Denn für Armuts- und Desintegrationskriminalität ist sehr wohl eine Bundesregierung verantwortlich zu machen, die es zuläßt, daß immer mehr Menschen ins gesellschaftliche Abseits getrieben werden.