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Schweigend, in Strickjacke

Vom Sozialistischen Realismus zum Problemboulevard oder Die zwei Seiten der Kontinuität – Nach 26 Jahren endet die Ära Hetterle am Maxim Gorki Theater. Eine Bestandsaufnahme  ■ Von Jörg Mihan

Ein Fall von Solidarität: Als der Innensenator 1991/92 eine Kampagne gegen die „Altlast Hetterle“ lostrat, die dem Betroffenen mit Gewißheit etliche Haare gekostet hat, setzten sich außer dem treuen Ensemble landesweit an die dreißig renommierte Theaterleute – von Lang bis Langhoff – beim Regierenden Bürgermeister entschieden für Albert Hetterles Verbleiben als Intendant des Maxim Gorki Theaters ein. Und er blieb.

Diesen Sommer läuft sein Vertrag jedoch aus, am 18. Juni wird er offiziell verabschiedet. Dem Symbol des „aufrechten Ostdeutschen“ ist jetzt ein Abtreten in Würde sicher, auch bleibt er dem Maxim Gorki Theater unter der neuen Intendanz von Bernd Wilms als Schauspieler erhalten – zumindest für die nächste Spielzeit. Zum Ende der Ära Hetterle und ihm zu Ehren ist im Foyer des Maxim Gorki Theaters derzeit auch eine kleine Ausstellung zu sehen: Rollen, Inszenierungen und Wende- Aktivitäten des langjährigen Chefs sind hier dokumentiert.

Was hat der schon seit Zeiten dienstälteste Berliner Theaterintendant in sechsundzwanzig Jahren getan und erreicht? Als er 1968 eingesetzt wurde, stand es mit dem Maxim Gorki Theater nicht zum besten. Albert Hetterle spielte schon dreizehn Jahre dort, er kannte den Laden und mußte denen, die ihn beriefen, als sicherer Kandidat erschienen sein. Diese Erwartungen erfüllte er zuverlässig und engagiert. Sein Theater wurde bald als vorbildlich herausgestellt, und man verlieh ihm einen Nationalpreis. „Meine Arbeit für das und mit dem Maxim Gorki Theater vollzog sich aus dem bohrenden Motiv, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Veränderungswillen durchzusetzen“, gestand er 1990.

Dem sozialistischen Realismus geweiht

Das stalinistische „Muster-Theater“ sollte bei seiner Gründung 1952 eine Brücke der Verständigung mit der Sowjetunion schlagen und wurde nicht zufällig unmittelbar neben das „Haus der sowjetischen Kultur“ plaziert. Es wurde von ehemaligen „Ost-Emigranten“ betrieben und war im Kontrast zu den etwas liberaleren Theatern der „West-Emigranten“ zunächst ganz streng Gorki, der Stanislawski-Methode und der russischen und sowjetischen Dramatik verpflichtet. Hinzu kamen Stücke des Sozialistischen Realismus neben Ausflügen in die deutsche Klassik, den Naturalismus und die kritische bürgerliche Literatur.

Das „Kleine Theater unter den Linden“, das zudem kein Staatstheater war, sondern dem Ostberliner Magistrat unterstand, hatte bis heute stets weniger Geld als die anderen und kämpfte gegen seine freieren, eitleren und privilegierteren Konkurrenten Deutsches Theater und Berliner Ensemble an. Hetterle setzte diesen Weg zunächst stoisch fort und war zugleich um differenzierte Neuorientierung bemüht. Eine glückliche Hand hatte er vor allem bei der Auswahl von Texten wie den „publizistischen Dramen“ Michail Schatrows und ähnlich kritischen sowjetischen, osteuropäischen und ostdeutschen Zeitstücken.

Auch beim Aufbau der Ensemblearbeit war er erfolgreich. Er nutzte die Nähe zum Potsdamer Hans-Otto-Theater, wo viele Talente in der „Warteschleife“ hingen, und sah sich in der Schauspielschule um. Etlichen jungen Theaterleuten öffnete er die Tür nach Berlin und sah relativ gelassen viele von ihnen weiterziehen. Das Maxim Gorki Theater wurde so zu einem Berliner „Einstiegs-Theater“. Auch wenn die „elitäre Szene“ die Nase rümpfte – den „Leuten“ gefiel es.

Kontinuität erlangte damals jene hochmotivierte Theater-Professionalität, die einerseits mit wachsendem Selbstbewußtsein, einer Art Sendungsbedürfnis und Solidarisierungsstreben verbunden war, andererseits aber auch blauäugig und durchaus von Selbstüberschätzung getragen war. Jenen schmeichelhaften Erfahrungen des Gebraucht- und Verstandenseins von „unten“ sowie des gleichzeitigen Beargwöhnt-, Geduldet-, wenn nicht gar Geschätztseins von „oben“, also dem tatsächlichen wie trügerischen Erlebnis „eigener Wichtigkeit und gesellschaftlicher Besonderheit“ erlagen schließlich die allermeisten DDR-Theaterleute. Sie büßten damit die Schärfe von Zähnen und Klauen und ihre Sehschärfe gerade gegenüber ihrem bedrohlichsten Feind ein und waren stolz über jedes Quentchen ertrotzter oder erschlichener Freiheit. Was da alles gegen Funktionäre und Behörden durchgesetzt werden mußte, war oft der Rede und Mühe nicht wert, zehrte die Kräfte auf und gefährdete reale Selbsteinschätzung.

Was geändert wurde, bestimmte er

Hetterles großes Verdienst ist es, Thomas Langhoff als Regisseur entdeckt zu haben, der sich bei ihm „freischwimmen“ konnte und dem Maxim Gorki Theater die besten Inszenierungen seiner letzten fünfzehn Jahre lieferte. „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow (1979) und „Die Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun, das aktuelle Pendant dazu, ein Abgesang auf die bröckelnde DDR von 1988, machten Theatergeschichte. In beiden Aufführungen spielte Albert Hetterle. Unvergessen ist der alte Funktionär Höchst, wie er schweigend in Strickjacke auf dem Fußboden sitzt und fernsieht, während über ihn hinweg seine Familie hysterische Selbstauflösung betreibt.

Hetterles Verdienst ist auch, daß er sich immer vor sein Ensemble gestellt hat und all die Hinterstubenkämpfe nicht auf dem Rücken seiner Mitarbeiter und auf ihre unmittelbaren Kosten ausgetragen hat. Dazu ist er zu sehr Schauspieler und weiß, was künstlerische Prozesse stört und beflügelt. Er hat sie beschirmt, aber auch abgeschirmt zugleich. Was geändert werden darf, vor allem auch was nicht, bestimmt bis heute immer noch er. Eine seriöse, verständige und freundliche Ausstrahlung und offenbar vernünftige Entscheidungen in einem soliden, patriarchalischen Leitungsstil haben ihm nicht nur Vertrauen, sondern auch die Liebe seiner Schauspieler-„Kinder“ eingebracht, anders wäre es nicht zu den geradezu schwärmerischen Sympathiebekundungen gekommen. Die Zuschauer erkennen ihn an seiner unverwechselbaren leise-knarrigen Stimme und schätzen ihn wegen seines verschmitzten Humors und seines überzeugenden „trockenen Pathos“.

Unter seiner Leitung schob sich ein kritisch-apologetisches Theater massiv in die Gunst eines ebensolchen Publikums. Stücke und Inszenierungen mit Problemen, die jedermann unter den Nägeln brannten und die auf die „dialektische“ Begradigung des krummen Daseins aus waren, fanden unerhörten Zuspruch. Das Maxim Gorki Theater hatte „sein Publikum“. Es hatte es in Betrieben und gesellschaftlichen Institutionen soziologisch ausfindig gemacht und sich unbedingt darauf eingestellt.

Was war – und vor allem: Was war nicht?

Wer schon ringsum leistete sich zuverlässige öffentliche Generalproben, die vollgestopft waren mit Kulturfunktionären aus ganz Ostberlin und Umgebung? Wer schon kannte seine Besucher fast namentlich? Wer schon betreute sie so vorzüglich? Gut besuchte, lebhafte Gespräche vor und nach den Vorstellungen bestätigten den Eindruck, am Leben dran zu sein. Keiner kam auf die Idee, daß man sich vielleicht gegenseitig etwas vormachte. Öffentliche Diskussionen um wirkliche Probleme waren etwas Seltenes, und so genoß man die schöne Kommunikation mit denen, die dieselben Sorgen und dieselben frommen Wünsche hatten. Hetterle darf sich dabei getrost fragen lassen, wen er gespielt hat und wen er hat spielen und inszenieren lassen, aber er sollte sich auch fragen, wen er bis heute nicht auf seine Bühne gelassen hat.

Die wunderbare Wandlung des Albert Hetterle in den 1988/1989er Jahren deutet einerseits auf Gespür und wiederum auf Verantwortung und eine beachtliche Treue gegenüber sich selbst und den vielen auf der Bühne verkörperten „Charakterrollen“ hin, soll heißen, Rollen mit Charakter. Er bewies sozusagen im Leben, daß er ernst genommen hatte, was er gespielt und inszeniert hatte. Die politisierte Kunst, die er betrieb, schien nicht spurlos an ihm vorübergegangen zu sein, er mußte es so gemeint haben. Nun konnte er in seinen öffentlichen Auftritten so souverän wie leidenschaftlich auf den Gestus seiner „fortschrittlichen“ Bühnenrollen zurückgreifen und überzeugte auch da.

Wie einige andere hatte er offenbar die „Zeichen der Zeit“ erkannt und machte fortan die Parteilinie, die ohnehin in den letzten Jahren der DDR-Kulturpolitik zerfaserte, nicht mehr mit, sondern setzte sich an die Spitze des kritischen Willens seines Ensembles und „outete“ sich im hohen Alter als „Staatsfeind“. Er sah, was nicht mehr zu übersehen war, arbeitete auf, gab wieder, was die nicht mehr mundtoten Geister um ihn herum äußerten und stellte sich tapfer davor. Diese späte Lernfähigkeit hat alle beeindruckt und seinen Bonus verlängert.

Weitermachen allein genügt nicht

Die Vertragsverlängerung Hetterles hat die Selbstillusion des Gorki Theaters in unerschütterlicher Konsequenz leider nur fortgesetzt, denn es ging letztendlich weiter wie bisher. Zugestanden, Hetterle hat sein Ensemble damit für fünf weitere Jahre „gerettet“ und zusammengehalten. Zugestanden, das politische und strukturelle Fundament, auf dem seine Theaterarbeit fast alternativlos gründete und auf das sie Einfluß zu nehmen sich mühte, war über Nacht weggebrochen. Da war guter Rat teuer. Man hatte an dem Ast gesägt, auf dem man saß, und hing jetzt in der Luft. Es ging buchstäblich ums Überleben. Die Frage war: wie und womit?

Der Schock, daß das gutwillige, ernsthaft-aufgeschlossene Ostpublikum genauso wegblieb wie in den anderen Theatern, und in das Kastanienwäldchen alsbald dasselbe verwöhnt-mäklige, lässige, zahlungskräftige Schnupper- und Amüsierpublikum aus dem Westteil schwappte, wurde zu kompensieren versucht mit dem Engagement des westdeutschen Dramaturgen Klaus Pierwoß und mit einem Spielplan, der im Grunde keine wesentlich anderen Stücke zeigte als vorher. Sie drehten sich nur nicht mehr um sozialistische Ideologie und Lebensweise. Mit „gehobenem Problemboulevard“ können sie umschrieben werden, diese erfolgreichen Allerwelts- Hits zu Tages- und Gattungsthemen, als da wären humane Entfremdung und Antirassismus.

Dieselben Schauspieler, die noch kurz zuvor in den Masken „unserer Menschen“ oder von Lenin und Genossen standhaft um die Beseitigung der ewigen „Kinderkrankheiten des Sozialismus“ oder der leidigen „Überbleibsel des Kapitalismus“ gerungen haben, verwenden ihre Gestaltungskunst jetzt bei der Eroberung noch unvertrauter Lebens- und Geisteswelten in den (anti-)bürgerlichen Gebrauchsstücken. Sollte das die neue Landnahme eines Gorki Theaters sein?

Albert Hetterles letztes Verdienst ist allerdings, daß er sein Herz für George Tabori entdeckt hat, dessen Stücke er in Serie spielen ließ. Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag vergangenen Oktober hat sich Hetterle eine letzte „Bekennerrolle“ geschenkt, den Mr. Jay in Taboris „Goldberg-Variationen“. Und da sagt er passenderweise: „Ich steige aus. Sieh zu, wie du ohne mich zurechtkommst. Wenn man ganz oben ist, kann's nur noch bergab gehen.“

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