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Vor dem großen Sprung nach vorn

Brasiliens Linksführer Lula schickt sich an, zum Präsidenten gewählt zu werden – es wäre eine Zeitenwende  ■ Von Astrid Prange

Wer fürchtet sich vorm roten Mann? Der Mann mit der roten Fahne, predigen seine Gegner, würde den Mittelstand zwingen, die schmucke Dreizimmerwohnung mit obdachlosen Bettlern zu teilen. Der Mann mit der roten Fahne, abfällig als bärtige Kröte beschimpft, sei Kommunist, und Kommunisten fressen bekanntlich Kinder.

Bei näherer Betrachtung sieht der Mann mit der roten Fahne alias Luis Ignacio Lula da Silva, Präsidentschaftskandidat der brasilianischen Arbeiterpartei PT, gar nicht so furchterregend aus. Der „kommunistische Kannibale“ präsentiert sich eher als gutmütiger, schlagfertiger Onkel. „Das Rot der PT-Fahne“, versichert Lula den Einwohnern des Städtchens Minacu inmitten des brasilianischen Bundesstaates Goias, „hat nichts mit Kommunismus zu tun. Rot steht für das Blut, das in unseren Venen fließt, um Brasilien wiederzubeleben!“

Fünf T-Shirts schwitzt „Lula“ unter der sengenden Sonne Goias' täglich durch. Die Genugtuung, die Stimmen der barfüßigen Landbevölkerung mit den zerfurchten Gesichtern zu erobern, verwandelt den 49jährigen in ein Energiebündel. „Ich hätte auch mit dem Flugzeug kommen können, doch dann hätte ich nicht gesehen, in welchem Zustand sich die Belem-Brasilia- Straße befindet. Noch nicht einmal Löcher auf der Straße stopfen kann die Regierung“, drischt er auf seine Zuhörer ein. Der Applaus feuert ihn an: „Wenn die brasilianische Elite es nicht schafft, dieses Land wieder hinzukriegen, dann muß das eben ein einfacher Drechsler machen!“

Seit einem Jahr peitscht Lula mit dem Omnibus quer durchs Land. Die Streifzüge durchs Landesinnere verschafften ihm gegenüber seinen Konkurrenten einen erheblichen Vorsprung. Umfragen zufolge steht der PT-Kandidat zu den Wahlen am 3. Oktober an erster Stelle.

„Brasilien ist kein modernes Land“

Lula genießt diesen Triumph sichtlich. Selbstbewußt verkauft er seine Schwächen nun als Stärken. Sicher, er hat die Präsidentschaftswahlen von 1989 gegen Fernando Collor verloren. Das gibt er auf jedem Podest sofort freimütig zu. Doch die größere Niederlage erlitt sein zunächst siegreicher Widersacher: Er wurde von einer parlamentarischen Untersuchungskommission der Korruption überführt und kam seiner zwangsweisen Amtsenthebung im Dezember 1992 mit dem Rücktritt zuvor. Das Impeachment von Expräsident Collor ist in erster Linie auf die hartnäckige Aufklärungsarbeit der petistas, wie die militanten Anhänger der Arbeiterpartei genannt werden, zurückzuführen.

Doch Lula verkneift sich bewußt Rachegelüste. „Collor war eine wichtige politische Lektion“, schmeichelt er der Landbevölkerung von Goias, die vor vier Jahren mit großer Mehrheit für den selbsternannten „Jäger der Korrupten“ stimmte. Mit dem gescheiterten „Experiment Collor“ scheiterte auch die von Collor proklamierte „Modernisierung“ Brasiliens. „Ein Land mit 150 Millionen Einwohnern und lediglich 30 Millionen Konsumenten ist nicht modern. Brasilien ist modern, wenn alle seine Kinder zur Schule gehen, und nicht, wenn die Importsteuer für Luxusautos gesenkt wird“, wettert Lula. Und mit einem einzigen Satz zieht er alle Zweifler auf dem Dorfplatz auf seine Seite: „Diese Leute kennen jede Kneipe in Paris, aber nicht in Minacu!“

Minacu, Babacu, Buriticupu – Dörfer im tiefsten Landesinneren von Brasilien, wo sich selten ein Politiker aus der Hauptstadt Brasilia hin verirrt. Auch Lula wußte nicht, daß ausgerechnet in Babacu die „Vereinigung der Kokosnußhackerinnen“ ihren Sitz hat. 300.000 Frauen im Bundesstaat Tocantins verdienen ihren Lebensunterhalt damit, daß sie Kokosnüsse zerschlagen und die Kerne an Fabriken verkaufen, die daraus wertvolles Kokosöl gewinnen. Seitdem die brasilianische Regierung die Importsteuer für Kokosöl auf zwei Prozent herabgesetzt hat, müssen die Frauen nun um ihre Existenz bangen. „Unter wirtschaftlichen und finanziellen Aspekten ist die Entscheidung genial, für die Kokosnußhackerinnen jedoch bedeutet sie das Ende“, doziert Lula. Und er wieder einmal gibt er sich scheinbar nachsichtig: Weder Collor noch Fernando Henrique Cardoso – ehemaliger Wirtschaftsminister und jetzt Präsidentschaftskandidat der Partei PSDB – hätten dies aus bösem Willen getan, nein, sie würden die Probleme schlicht und ergreifend nicht kennen. „Das einzige, was sie über Kokosnüsse wissen, ist, daß sie mit dem Kokoswasser am Wochenende am Swimmingpool ihren Whiskey verlängern können“, poltert Lula, und wieder erntet er den dicken Applaus seiner Zuhörer.

Noch vor vier Jahren wäre Lula ein solcher Spruch nicht in den Sinn gekommen. Damals beäugten die Landarbeiter und Tagelöhner aus dem Landesinneren den Emporkömmling aus dem brasilianischen Nordosten äußerst skeptisch: Wieso sollte ausgerechnet dieser Mann, der aus einer extrem armen Familie stammte, ihre Interessen in Brasilia vertreten können? Wieso sollte ein Drechsler mit gerade vier Jahren Grundschule geeigneter sein, Brasilien zu regieren, als der gutaussehende, studierte Sproß einer traditionellen Familie namens Collor, der sich in drei Sprachen ausdrücken kann?

„Wir haben die brasilianische Kultur damals nicht ausreichend berücksichtigt, das war unser Fehler“, räumt Athos Magno, PT- Kandidat in Goias für den Senat, selbstkritisch ein. „Der Paternalismus ist hier tief verwurzelt.“ Heute gereicht Lula seine bescheidene Herkunft zur Ehre. Denn im Gegensatz zu fast allen anderen brasilianischen Politikern ist sein Lebenslauf „sauber“. Weder Korruption noch opportunistischer Parteienwechsel noch Kungelei mit den Militärs kennzeichnen seinen Werdegang. Auch unverhofften Reichtum bescherte ihm seine politische Karriere nicht. Lula wohnt noch heute mit seiner Frau Marisa und seinen Kindern in einem Mittelklasseviertel im Großraum São Paulo.

Wo die Elite scheitert, muß ein Drechsler ran

Verglichen mit seiner ursprünglichen Heimat Garanhuns im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco ist dies bereits ein beträchtlicher Aufstieg. In der Hoffnung, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen, kämpfte sich Lulas Mutter Euridice im Jahr 1952 mit ihren acht Kindern nach São Paulo durch. Um zu helfen, verkaufte der damals siebenjährige Lula Erdnüsse und Orangen auf der Straße. Seine berufliche Karriere begann er im Alter von zwölf Jahren als Bürojunge in einer Farbenfabrik. Die Ausbildung zum Drechsler erwarb er beim Schraubenhersteller „Parafusos Marte“.

Nach zehn Jahren an der Werkbank stieg Lula bei der Gewerkschaft ein. Während Fernando Collor aufgrund der hervorragenden Beziehungen seines Vaters zu den Militärs zum Bürgermeister von Maceio, Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Alagoas, ernannt wurde, saß Lula wegen der Organisation von Massenstreiks im Industriedreieck São Paulo hinter Gittern. Langsam, aber sicher arbeitete sich der Unternehmerschreck nach oben. Nach zweimaligem Vorsitz der Metallgewerkschaft von São Bernardo do Campo gründete er im Februar 1980 die Arbeiterpartei PT. Heute gehören der Partei in ganz Brasilien 700.000 Mitglieder an.

Lulas zäher Einsatz für Arbeitnehmerinteressen und Demokratisierung beeindruckt mittlerweile nicht nur die „kleinen Leute“. Auch der Besitzer des Hotels „Estoril“ in der Kleinstadt Ceres, wo der Präsidentschaftskandidat und seine zahlreichen Begleiter für eine Nacht sämtliche Zimmer belegen, hat sich in einen petista verwandelt. „Gestern habe ich mich festgelegt: Ich wähle Lula“, erklärt er offen. Hundertprozentig vertraut er ihm jedoch nicht: „Um dieses Land zu reparieren, braucht er mindestens zwei Mandate. Es ist schwierig, die Sümpfe der Korruption trockenzulegen.“

Beim Stichwort „Korruption“ gerät Lula in Fahrt. Seine Reibeisenstimme überschlägt sich, als er auf der Ladefläche eines Lastwagens zum Diskurs ausholt. „Wenn sie euch bei diesen Wahlen wieder mit Reis und Bohnen kaufen wollen, dann nehmt es ruhig an“, fordert er die Einwohner von Minacu auf. „Sie haben es euch ja sowieso geklaut, nehmt es an und wählt mich!“ – „Sie“, das sind die zahlreichen Abgeordneten, Exminister und Senatoren, die zur Zeit von einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß beschuldigt werden, öffentliche Gelder für soziale Institutionen in die eigene Tasche umgeleitet zu haben. Und apropos Reis und Bohnen: „Wer mit Millionen von Hektaren spekuliert, anstatt das Land zu bewirtschaften und Arbeitsplätze zu schaffen, wird enteignet“, droht Lula. „Das Volk will nicht ins Gras beißen, sondern Bohnen essen.“ Im ländlichen Goias ist die Agrarreform Lulas Lieblingsthema.

Bevor der Applaus abbröckelt, ist Lula mit seiner Mannschaft bereits entschwunden. Acht Leibwächter schirmen ihn ab, denn im Landesinnern von Brasilien steht Lula bei einigen Großgrundbesitzern auf der schwarzen Liste. Die Karawane rollt auf der leeren Landstraße weiter zur Asbestfabrik „Sama“. Die nächste Stippvisite führt ins heruntergekommene Smaragdstädtchen Santa Teresinha, und von dort aus geht es weiter zu einer illegalen Goldmine. Die Entfernungen im unterbevölkerten Goias sind enorm.

In der Goldmine vermag der feine, glitzernde Staub, der in der heißen Luft flimmert, das Elend nicht zu verdecken. Tausende von Goldsuchern, garimpeiros, suchen in dem aufgewühlten, grauen Schlamm auf eigene Faust nach dem großen Glück. Das Flußbett ist leergepumpt und zu einer quecksilberverseuchten Kraterlandschaft verkommen. Im Müll, den niemand einsammelt, tummeln sich Schweine und Hunde. „Noch nie in meinem Leben habe ich soviel Elend gesehen, und ich bin einiges gewöhnt“, faßt Lula seine Eindrücke nach sechs Karawanen zusammen. Wo auch immer er aus seinem Bus steigt, versichert er seinen Zuhörern, als allererstes die grassierende Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen. Mindestens vier Millionen Arbeitsplätze sollen während Lulas Amtszeit geschaffen werden, sollte er am 3. Oktober zum Präsidenten von Brasilien gewählt werden. So jedenfalls sieht es das Regierungsprogramm der PT vor. Paulo Okamoto, ehemaliger Vorsitzender der PT in São Paulo, muß bereits abwimmeln: „Wir wollen nicht zuviel versprechen.“

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