■ Die italienische Linke und die Unbill der Geschichte
: Im Abseits

Nun ist in Italien die Rechte an der Regierung, und die Linke ist schuld daran. Innenminister Maroni (Lega) sagt es dem Corriere della Sera: „Die Linke war die Stütze des italienischen Parteiensystems. Sie ist nun das Opfer ihrer staatstragenden Zusammenarbeit (consociativismo) mit den Christdemokraten.“ Zwar durfte sie nie in die Regierung, trug aber die Verantwortung und zum Schaden nun auch den Spott. Alles, was sie lange Jahre hindurch gesagt hatte, hat sich als wahr erwiesen: Die Christdemokraten waren korrupt und die Craxisten Zauberlehrlinge; die Geheimdienste sind Bombenleger im Dienste der Rechten, die Mafia genießt höchste Protektion, die Unternehmen sind vor allem innovativ, wenn es gilt, die Löhne zu drücken, das Finanzkapital arbeitet jenseits der Legalität, die Produktionsstruktur ist sowohl hochgradig monopolisiert als auch fragmentiert. Keiner konnte das mehr hören, und die Linke war überrascht, als man den Machthabern plötzlich den Prozeß machen konnte. Sie selbst hätte diese Prozesse auch nie führen können, das hätte die internationale Lage und das hätten auch die Wähler nicht gestattet, die jetzt so tun, als ob sie jahrzehntelang von allen Parteien getäuscht worden seien. Die Geschichte ist ungerecht, aber die Moral hat gesiegt.

Die Wahlplakate der Lega vom Frühjahr 1994 sind bereits alt und für die Europawahlen neu überklebt. Da hieß es: „1994 cade la dittatura. C'è una rivoluzione da concludere“. Also eine Diktatur mußte fallen, und eine Revolution muß nun zu Ende geführt werden. Mit diesem Unsinn hat die Lega eine Wahl gewonnen. Berlusconi, Bossi, Fini, drei hochkarätige Demagogen haben „das System weggefegt“. Wer historisch differenziert und die „Erste Republik“ in ihrer gesamten Entwicklung beziehungsweise Involution mit allen Licht- und Schattenseiten beurteilen will, wird zum Verteidiger des alten Systems. Der Konformismus der Neuen walzt alles nieder. Und wer darauf hinweist, daß Berlusconi und sein Anhang im Schatten der Craxis groß und mächtig wurden und daß der einzige Verdienst der Neofaschisten darin besteht, am Rande des politischen Systems ausgeharrt zu haben, gilt als Heimtücker. Mit solchen Verbündeten hat die „Revolution“ der Lega tatsächlich einen schweren Stand.

Das Neue sieht ziemlich alt aus. Das Kabinett Berlusconi ist nicht schlanker geworden, sondern hat Ministerien zugelegt: eines für die Italiener im Ausland (das heißt die Lobby in den USA) und eines für die Familie (Stärkung des privaten sozialen Netzes, um das öffentliche abbauen zu können). Im Erziehungsministerium amtiert wieder einmal ein Christdemokrat, der sich rechtzeitig zu Forza Italia abgesetzt hat. Die kulturellen Brosamen (Denkmalschutz, Umweltschutz), die Berlusconi nicht interessieren, gingen an die Neofaschisten. Alle kulturell relevanten Ministerien und Schaltstellen, die mit Information und Medien zu tun haben, besetzte er mit eigenen Leuten. Die Lega hat das Innenministerium erkämpft und könnte nun hier die vielen Leichen im Keller identifizieren, was aber im Grunde niemand will. Man hat gar nicht mehr den Mut, höflich nachzufragen. Wirtschaftlich und sozial schwört Berlusconi auf Deregulation und Privatisierung. Auch nichts Neues.

Und doch ist alles anders geworden. Klassischer Verfremdungseffekt: das Alte in einem anderen Licht. Der christdemokratische Klan- und Klientelkapitalismus verliert seine schwerfälligen, sozialen Aspekte und wird schlanker und aggressiver. Auch politisch. Statt der Parteien Fanclubs. In drei Monaten hat Berlusconi 14.000 Fanclubs mit einer Million Mitglieder geschaffen, ohne feste Strukturen, reine Software. Auch die Auffassung vom Staat ist schlanker geworden. Italien ist jetzt ein Unternehmen. Demokratie bedeutet bei Berlusconi Herrschaft der Mehrheit. Minderheiten haben nur sehr begrenzt das Recht, die Mehrheit zu stören. Daran besteht kein öffentliches Interesse. Berlusconi: „Es ist nicht normal, wenn öffentliche Medien in einem demokratischen Staat gegenüber der Mehrheit kritisch eingestellt sind, zumal sie von ihr finanziert werden“ (8.6.94). Private Medien dürfen und sollen kritisch sein. Sie gehören Berlusconi. Demokratie ist Demoskopie, Politik ist Information und Klima (Licht). Mussolini erscheint in einem anderen Licht. Das ganze Jahrhundert erscheint in einem neuen Licht. Angelo Bolaffi entdeckt in der Frankfurter Allgemeinen (8.6.94) sogar: „Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die große Kultur des 20. Jahrhunderts im wesentlichen eine rechte Kultur gewesen: von Heidegger bis Jünger, von Céline bis Pound, von Eliot bis Yeats und, warum nicht, Gentile.“ Er hat Benn und meinen geliebten Hamsun vergessen. Im Grund bleiben die Leute das, was sie schon immer waren: Mal links, mal rechts, warum nicht? Da lob' ich mir die neue Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Irene Pivetti (Lega), die eine vierhundert Jahre alte Venus (nackt!) aus ihrem Büro entfernen ließ, und wenn der neue Verteidigungsminister (im Privatleben Berlusconis Rechtsanwalt) bei einer Rede über die Befreiung die Partisanen vergißt, kann man ihm nicht böse sein, denn er hat es nie anders gewußt. Dafür bietet er für alle Krisengebiete der Welt italienische Soldaten an.

Die schleichende Revolution läßt sich nur schwer dingfest machen. Die ganze Misere an den Figuren der neofaschistischen Minister abzuhandeln, bringt wenig, mag aber wichtig sein für die persönliche Hygiene. Der Literaturhistoriker Hans Mayer hat eine Lesung in Rom in dieser Situation abgesagt. Die offiziellen Hüter der Demokratie in der Welt raten dazu, Taten abzuwarten. Die nächsten Taten werden sein: Neuordnung der Medien (im Sinne Berlusconis); Normalisierung der Justiz; Neuordnung des Wahlrechts, damit die Mehrheit noch deutlicher Mehrheit sein kann.

Und die Linke? Sie darf die Wähler nicht schelten, denn das wird von den neuen Populisten ganz übel vermerkt und gilt allgemein als unfein. Gegen die Mehrheit – also auch undemokratisch. Eine Analyse des sozialen Systems und der Mechanismen, die die Wähler der Fata Morgana nachlaufen lassen, ist auch nicht gefragt. In den 50er Jahren hatten die Kommunisten auf den Sieg der Christdemokraten mit einer großen sozialen und kulturellen Offensive geantwortet, die der bürgerlichen Demokratie in Italien eine positive Prägung und Inhalte gab. Die große Leistung hatte darin bestanden, Opposition zu sein, Möglichkeiten des „Andersseins“ offenzuhalten. Es ist bitter und wohl auch unmmöglich, immer Opposition zu sein. Verantwortungsbewußt, selbstkritisch und zu jeder Unterwerfungsgeste bereit, beschritt man den Weg in die Regierungsverantwortung. Noch bitterer ist es jetzt zu sehen, mit welcher Leichtigkeit die alten Kämpfer von Salò und junge Postfaschisten in die Ministerien einziehen, während die Linke in die unangenehme Lage gedrängt wird, das alte System zu verteidigen. Findet sie keine dankbarere Aufgabe? Peter Kammerer

Professor für Soziologie an der Universität von Urbino