Angst vor dem, was heute geschehen muß

■ Ein Tag wie kein anderer: Der „letzte“ Tag im Leben eines Nazis

Mein Wecker schrillt durch die morgendliche Stille. Langsam wache ich auf. Nur noch einige Minuten im Bett bleiben, im Radio meinen Lieblingshit „What's Up“ von den 4 Non Blondes hören. „What's Up“ – was ist los? Eine Menge.

Heute ist ein ganz besonderer Tag. Nein, ich habe nicht Geburtstag, es ist auch nicht Weihnachten oder so was. Heute ist der Tag, an dem ich endgültig Schluß mache, Schluß mit meiner Vergangenheit, weil ich mich hasse, so wie ich bin.

Es ist höchste Zeit, ich muß aufstehen. Während ich vor dem Spiegel stehe, wird mir klar, daß ich Angst habe, Angst vor dem, was heute geschehen muß. Ohne mich aus den Augen zu lassen, ziehe ich mich an. Die Springerstiefel mit den weißen Schnürsenkeln und die Bomberjacke. Ich sehe mich und ich denke, denke: „Das bin nicht ich!!“ Und ich werde es beenden, das Leben voller Gewalt, das ich so hasse.

Doch dann schalte ich dieses Denken erst mal aus. Auf dem Weg zur Schule sehe ich wie jeden Morgen Cindyu. Sie sieht mich an wie immer, mit einem Blick aus einer Mischung von Angst, Verachtung, aber auch Neugier. Wie gerne möchte ich zu ihr gehen und mit ihr reden! Aber es geht nicht. Ich merke, wie mein Herz lächeln möchte, ie ich das Lächeln aber mit aller Gewalt unterdrücke.

Am Schultor stehen sie, und schon steigt wieder Angst in mir hoch. Wie gewöhnlich gibt es eine Begrüßung per Handschlag und ein leises Tuscheln, in dem der Name Mario fällt. Also er, der kleine, schwache aus der 9. Klasse ist es diese Woche. Außerdem sagen sie mir noch den Zeitpunkt – große Hofpause. Gut. Genau dann werde ich es ihnen sagen.

Der Tag vergeht bis zur entscheidenden Pause wie im Traum. Doch dann ist es soweit. Treffpunkt Raucherecke. Ich stehe da und schweige, obwohl ich viel zu sagen habe. Sehr viel.

Ich setze an: „Hört zu, ich...“ Doch keiner hört es. Mario kommt an uns vorbei. Wir gehen ihm hinterher. Warum ich? Ich weiß es nicht und gehe weiter. Einen Augenblick lang sehe ich Cindyu. Unsere Blicke kreuzen sich. Ihrer ist bittend, hoffend und ängstlich.

Ich habe keine Gewalt mehr über mich. Alles geschieht in einer Art Trance. Sie haben angefangen zu treten und zu schlagen. Alle sehen mich an. Vor Angst weiß ich nicht mehr, was ich tue. Ich sehe nur noch sie vor mir. Ein unglaublicher Haß ergreift mich, und ich schlage hart zu. Sehr hart. Sehr, sehr hart.

Plötzlich sehe ich Mario vor mir liegen und begreife, was ich getan habe. Er war es, nicht sie!! Wieder sehen mich alle an. Sie sind zufrieden, aber Cindyu ist enttäuscht und wütend. Sie wendet sich ab und geht. Ich bleibe allein, mit meinem Haß auf Gewalt, sie und vor allem auf mich. Katja Dittmar