„Man denkt im allgemeinen viel zu wenig“

Die Schulverwaltung hat unter dem Motto „Einmischen statt aufmischen“ einen Wettbewerb veranstaltet. Rund 100 Jugendliche haben zum Thema „Gewalt macht keine Schule“ geschrieben. Die taz veröffentlicht einige prämierte Beiträge.

Was wollt ihr denn alle? Meine Mutter hat mich letzten Donnerstag so zusammengeschlagen, gebissen und getreten, daß ich aus dem Fenster gesprungen bin. Vor ihrer Prügelorgie hat sie noch das Telefonkabel gekappt, damit ich niemanden um Hilfe rufen kann, außerdem hat sie auch die Wohnungstür abgeschlossen, ich hätte ja abhauen können. Alles war also bestens „vorbereitet“, um mich ungestört fertigmachen zu können. In den nächsten zehn Minuten wurde durch sie mein ganzes Zimmer verwüstet, es war der Meinung meiner Mutter nach zu unordentlich. Sie kippte die Regale und den Tisch um und schmiß meine Sachen durch die Gegend. Dann hat sie sich meiner „angenommen“. Erst mal schön eine rein mit der Faust, bis sie kotzt, das Miststück von Tochter, anschließend wird das Miststück an den Haaren durch die Wohnung gezerrt, nebenbei hat man seine langen Fingernägel noch im Gesicht der Tochter verewigt, sie muß doch schließlich eine Erinnerung von diesem Abend davontragen. (...)

Erschreckend, daß diesem Tier, welches eigentlich doch meine Mutter ist und ich damit auch ihr eigen Fleisch und Blut bin, daß ihr die ganze Zeit egal war, welche Schmerzen ich hatte, und daß sie mich im Gegenteil noch getreten hat, als ich bereits völlig wehrlos auf dem Boden lag. Ich hätte verdammt noch mal draufgehen können. Ich hatte echt Angst, daß meine Mutter mich umbringt, bei ihr waren alle Sicherungen rausgeknallt, sie war nur noch eine Maschine, die Tritte, Schläge und Beschimpfungen austeilt, von denen „ach, hätte ich doch abgetrieben“ noch die harmloseste war.

So bin ich halt gesprungen, war leider nicht hoch genug, habe mir daher nur mein Kniegelenk verstaucht und nicht das Genick gebrochen. Was folgte, habe ich nur als Alptraum wahrgenommen. Zur Polizeiwache gefahren, von dort zum Krankenhaus und wieder zurück. Dann nachts um zwölfe die „Tour de Berlin“ mit einem dieser grünen Streifenwagen zum Jugendnotdienst. Nachts durch Berlin zu fahren, alles zusammenstürzen zu sehen, alles, was einen bisher gehalten hat, und absolut nichts Neues ist da zum Anfangen. Ist ungefähr so, als ob du als Nichtschwimmer auf dem Zehnmeterturm stehst und einer verpaßt dir einen Tritt, du fällst und fällst, und nirgendwo kriegst du wieder festen Boden unter den Füßen. Ist ein echt unheimliches Gefühl, ich meine, wenn man sich dann noch vorstellt, daß vielleicht alle am Beckenrand stehen, dich angrinsen und keiner auf den Gedanken kommt, dir zu helfen. Erst ist es so laut und dann mit einem Schlag still, so scheißruhig, Friedhofsruhe. (...)

Vor ein paar Tagen habe ich beim Jugendnotdienst zum ersten Mal in meinem Leben zwei Stunden mit meiner Mutter gesprochen. Das meiste, was ich zu hören gekriegt habe, waren Vorwürfe. Ich scheine für alle Katastrophen und Perversionen meiner „lieben“ Familie verantwortlich zu sein. Ich war nahe dran zu glauben, daß ich meine Mutter verprügelt habe und nicht sie mich. Letztendlich aber muß ich es bei meinen Eltern aushalten, denn einen Wohngemeinschaftsplatz bekomme ich nicht. Tja, Pech gehabt. Es gibt leider nur acht Plätze im Wohnbezirk, darfst nächstes Jahr noch mal in die Lostrommel greifen. M.D.

Es war einmal im Jahr 1978. Da stand mitten in der großen Stadt Ostberlin ein Haus mit elf Stockwerken. Das Haus war gerade erst fertiggestellt worden, doch die ersten Bewohner schleppten schon ihre Koffer hinein. Es dauerte nicht lange, da wohnten in jeder Etage drei Familien. Die meisten hatten kleine Kinder, die sogleich Freundschaft miteinander schlossen.

Diese Kleinkinder wuchsen mit der Zeit heran und wurden stattliche Jugendliche. Sie gingen alle auf die gleiche Schule und verstanden sich mehr oder weniger gut. Es gab zwar mal da einen Streit und dort eine Prügelei, doch alles ging irgendwie seinen Gang. Dann kam die Wende. Plötzlich wurden sie getrennt. Jeder ging nun in eine andere Schule. Toll, dachten die meisten, Veränderungen sind immer gut, warum nicht neue Leute kennenlernen. Also zogen sie in die große Welt des Schulsystems und versuchten, ihren eigenen Weg zu finden. Peter von ganz oben ging beispielsweise auf eine Realschule und Christine aus der 6. Etage entschied sich fürs Gymnasium. Das war also kein größeres Problem. Jeder von ihnen lernte neue Freunde kennen, die Persönlichkeiten bildeten sich heraus und so wurde man langsam erwachsen. Alles schien in Butter, jedermann beziehungsweise -frau war zufrieden. Doch plötzlich geschah das vorprogrammierte Unerwartete. Silvio aus dem 9. Stock hatte sich umgebracht! Selbstmord durch Tabletten. Das kann nicht sein! Silvio doch nicht, wir haben doch schon im Sandkasten miteinander gespielt. Er ist zu so was nicht fähig, nicht Silvio. Überall pures Entsetzen! Tage später die unfaßbare Nachricht, daß es doch wahr ist. Seine Mutter kam, völlig mit den Nerven am Ende, zu Besuch, sagte, sie müsse sich mal aussprechen. Sie hat sonst niemanden mehr. Niemanden.

Wie konnte das nur passieren? Warum Selbstmord? Warum hatte er sich nicht jemandem anvertraut? Einer Beratungsstelle oder uns. Wir waren doch alle mal so gute Freunde. Wir waren... Wann hatten wir uns das letzte Mal unterhalten, Spaß gehabt? Es ist eine Ewigkeit her und wir wohnen doch so nahe beieinander.

Gewalt ist nicht nur, wenn jemand verprügelt wird. Gewalt ist auch, wenn jemand Selbstmord begeht. Er tut sich selbst Gewalt an, die härteste Form, die es gibt – den Tod. Warum? Ist nur er alleine Schuld, oder sind wir es nicht alle, die mitmachen – kleine Kinder zu schikanieren, die in der U-Bahn sitzen und wegsehen, wenn jemand belästigt wird, die den Nazis Beifall klatschen? Harte Beschuldigungen, doch wie kann so etwas passieren, wenn alle es abstreiten? Sandra Irmer

Kant? Sie meinen vermutlich die Straße!? Marx? War das nicht ein Komiker!? Chaplin? Sie meinen vermutlich diesen armen Kerl, der Hitler so ähnlich sah, daß er ihn schließlich sogar spielen mußte...!? Nationalsozialismus? Schrecklich. Wir alle haben Schuld und Verantwortung. Aber das begreift ja wieder kein Mensch! Was wir brauchen, ist eine geistige Revolution! Revolution! Ich liebe diese großen Wörter! Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! Wir-alle-sind-ausländer-fast-überall-nichts-hören- nichts-sehen-nichts-sagen-ich- greife-ein-gib-dem-haß-keine- chance-schlagt-die-glatzen-bis-sie- platzen! Warum schweigt ihr? Weshalb sitzt ihr da und bekommt eure Fressen nicht auf? Ihr seid überhaupt die schlimmsten! Ihr seid das üble Pack von Leuten, die eines Tages in ihrer eigenen Couchgarnitur ersticken! Warum sagt ihr nichts?(...)

Gewalt? Dieses Wort sage ich verächtlich. Gewalt. Hört ihr, wie verächtlich ich dieses Wort sage? Käääehfaaahlld! Ihr hört es nicht? Ihr traut euch ja selber nicht in eurer Ignoranz! Ihr belügt euch ja genauso, wie ihr euch von den Politikern belügen laßt! Das sind auch alles Lügner! Hitler schlimmer als Stalin, Bush schlimmer als Hussein und Kohl schlimmer als Honecker! Überhaupt ist alles so schlimm. Ich bin sehr betroffen.

Was man dagegen tun soll? Aber ich bitte Sie! Gebt ihnen Arbeit! Wo Arbeit ist, ist auch keine Gewalt! Seht Irland an! Zwanzig Prozent Arbeitslose und soviel Gewalt! Das sieht man doch andauernd in den Nachrichten! Das sieht man ja auch an mir! Früher war ich ja selbst so ein Aufbrausender, aber heute habe ich einen Job und bin gegen Gewalt. Die müßten einfach mal ein bißchen mehr durchgreifen, wenn diese glatzköpfigen Amokläufer unterwegs sind! Mehr Polizei! Mehr Justiz!

Wie bitte? Mit meinem Geschwätz würde ich auch nur Gewalt provozieren? Sie Dumpfglocke! Eine andere Lösung kann es doch für einen vernunftbegabten Menschen gar nicht geben. Abführen, einsperren, das ist doch keine Gewalt, das ist Vernunft! (...)

Verständigung? Na hören Sie mal! Da kann es doch keine Verständigung geben! Es gibt Menschen und Nazis! Mensch bleibt Mensch und Nazi bleibt Nazi! Ich lasse mich nicht mit Nazis zusammenmischen! Wo würden wir denn da hinkommen? Das haben wir ja nie gemacht! Ausländer rein! Ich bin auch ein Ausländer! Und was für einer! Und das sage ich ganz offen! Wir leben doch in einer Demokratie! Ich bin nicht politisch! Ich denke gesellschaftlich! Ich bin Künstler! Lebenskünstler! Ich bin gegen die Demokratie und diese Sachen! Ich bin ohnehin gegen alles und außerdem gegen jeden, also überhaupt dagegen, gegen irgend etwas zu sein! Frieden schaffen ohne Waffen! Kampf den Diktatoren! Was? Wie man sich ohne Waffen verteidigen soll? Seht mich an! Hier mein Fuß, dort die Toilettentür – ein Tritt... Mach kaputt, was dich kaputtmacht! Aber keine keine Gewalt!