Der Auszug aus Algerien

Vor allem Binationale fliehen nach Frankreich / Beim „Komitee für heimkehrende Franzosen“ ist jedes Bett besetzt / Erinnerungen an die Zeit nach der algerischen Unabhängigkeit  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„Das ist für mich“, ruft Nadia und stürzt beim ersten Läuten in die offene Telefonkabine. Seit zwei Stunden harrt sie in der Eingangshalle des Heims aus. Inzwischen hat sie einen der vier Hocker gleich neben dem einzigen Telefon ergattert. Neben ihr warten fünf weitere Frauen auf Lebenszeichen ihrer Männer. Kurze Frage, kurze Antwort – dann hält Nadia den Hörer enttäuscht in die Luft: „113“, sagt sie.

Man muß sich schnell verständigen, denn Gespräche zwischen Algerien und Frankreich sind teuer. Deshalb ist es sicherer, die Zimmernummer und nicht den Namen anzugeben. Nadia ist es lieber, anonym zu bleiben. Die ständige Angst, mit der die Französin in Algerien leben mußte, sitzt ihr noch in den Knochen. „Wir haben Todesdrohungen erhalten“, sagt sie. „Als meine Tochter neulich verreist war, rief nachts jemand an und sagte: Lilia ist tot.“ Es war eine Lüge. Doch Nadia hielt den Psychoterror nicht länger aus. „Ich bin nach Algier zum Konsulat gefahren und habe alles erzählt. Dort riet man mir, sofort die Koffer zu packen.“

Vor vier Tagen landete sie mit ihren vier Kindern auf dem Pariser Flughafen; ein Vertreter des „Komitees zur Hilfe für heimkehrende Franzosen“ nahm die Familie in Empfang und brachte sie in das Übergangsheim in Vaujours. Den Ort im Vorstadtgürtel von Paris fand Nadia erst nach langem Suchen auf einer Karte. Dort wartet sie nun ab. „Wir sind hier auf Transit“, sagt sie.

Für viele Rückwanderer ist das „Komitee zur Hilfe für heimkehrende Franzosen“ erste Station in einem neuen Leben. Das dreistöckige Haus liegt zwischen Schnellstraße und Parkplatz, so, als sollten die Ankömmlinge unverzüglich mit den tristen Lebensbedingungen der banlieue konfrontiert werden. Hier stranden alle „Repatriierten“, die nicht reich genug sind, um auf eigenen Füßen zu stehen. Der französische Staat finanziert das Heim, in dem ihnen materielle und psychologische Starthilfe gegeben werden soll. „Die Konsulate verständigen das Außenministerium, und von dort erfahren wir, wann wir die Neuankömmlinge am Flugplatz abholen müssen“, sagt die Leiterin. Wie die meisten Bewohner so will auch sie, eine junge blonde Frau, ihren Namen nicht nennen. „Wir wollen nicht im Rampenlicht stehen“, sagt sie, „die Menschen hier brauchen Ruhe.“

„Ausländer, verlaßt das Land!“

Im vergangenen Jahr ging es hier noch gemächlich zu. Damals war vielleicht die Hälfte der 176 Betten belegt, und die Heimkehrer hatten ganz unterschiedliche Geschichten, kamen sie doch aus allen Himmelsrichtungen: Franzosen aus Armenien, Rußland, Dschibuti, Madagaskar oder Tunesien. Heute treffen fast nur noch Menschen aus Algerien ein.

Seitdem im September erstmals auch Franzosen in Algerien ermordet wurden, reißt der Strom der Exilanten nicht mehr ab. Zwei junge Vermessungsingenieure waren die ersten Opfer eines Anschlags, den vermutlich islamische Extremisten begangen haben. Im November wurden drei französische Konsulatsangestellte gekidnappt. Als sie freigelassen wurde, brachte Michèle Thévenot ein Ultimatum mit: „Ausländer, verlaßt das Land!“ stand auf dem Zettel, andernfalls drohe der Tod. Inzwischen wurden zehn Franzosen und 24 andere AusländerInnen ermordet. Im Machtkampf zwischen Regime und Fundamentalisten nehmen Gewalt und Terror zu.

Zuletzt wurden mitten in der Altstadt von Algier ein Priester und eine Nonne von unbekannter Hand erschossen; die beiden alten Menschen hatten eine der wenigen Volksbibliotheken aufgebaut. „Wie jedes neue Attentat wird auch dieser Anschlag wieder eine Fluchtwelle auslösen“, prophezeit die Heimleiterin. Seit Jahresende blieb in Vaujours jedenfalls kein Bett mehr frei.

Die französische Regierung weiß, daß auf sie ein Exodus zukommen könnte. „Algerien ist für uns das größte außenpolitische Problem“, heißt es im Außenministerium. Erinnerungen an die Wanderungsbewegung nach der algerischen Unabhängigkeit im Jahr 1962 werden wach, obwohl die Zahlen nicht vergleichbar sind: Damals rechnete Frankreich mit 600.000 Algerienfranzosen, doch doppelt so viele pieds noirs machten sich auf den Weg. Heute, so wird geschätzt, könnten immerhin 100.000 Menschen ein Recht auf Übersiedlung nach Frankreich anmelden: In den französischen Konsulaten in Algerien sind derzeit rund 17.000 Menschen gemeldet, die zugleich einen französischen und einen algerischen Paß besitzen. Im Außenministerium schätzt man, daß 25.000 weitere „Binationale“ in Algerien leben, die nicht verzeichnet sind. Meistens sind es Französinnen, die Algerier geheiratet haben. Hinzu kommen diejenigen, die Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft erheben können, wie etwa die Kinder von französisch-algerischen Eltern.

Bis heute weigert sich Paris, eine Massenflucht ins Auge zu fassen. „Wir wären nicht in der Lage, einige zehntausend Menschen aufzunehmen“, betont Innenminister Charles Pasqua. „Die Binationalen müssen sich legitimieren“, verlangt der Minister. Pasqua hat den Kampf gegen die Einwanderung zu seinem Markenzeichen gemacht.

Die Flüchtlinge im Übergangsheim von Vaujours mußten jedenfalls nicht mit bürokratischen Schikanen kämpfen. „Das Konsulat hat sogar unsere Flugtickets bezahlt“, sagt Ahmid, ein algerischer Elektriker, der mit seiner schwangeren Frau und den fünf Kindern ausgewandert ist. Wie alle anderen hier hatte auch er Angst „vor den Nachbarn“. „Meine Frau ist in Blida geboren und hat französischen Boden nie betreten“, sagt er. „Dennoch war sie gefährdet, weil alle wußten, daß sie einen französischen Paß besitzt.“ Ahmid weiß, was er diesem Paß zu verdanken hat, denn für fast alle Algerier sind die Grenzen dicht. „Ich kenne viele, die rauswollen“, sagt er, „in Algerien kann heute jeder zum Opfer werden. Doch die meisten sitzen fest.“

Visumanträge nur noch auf dem Postweg

Seit 20 Jahren versucht Frankreich, der Einwanderung einen Riegel vorzuschieben. Seit acht Jahren braucht jeder Nichteuropäer ein Visum. Der Bürgerkrieg hat die Haltung der früheren Kolonialmacht noch verhärtet: Seit der Entführung ihrer Angestellten haben die drei französischen Konsulate in Algier, Oran und Annaba ihre Schalter zugemacht. Visumanträge werden nur noch auf dem Postweg angenommen – dadurch verzögert sich die Prozedur erheblich. Zugleich ist die Zahl der erteilten Visa innerhalb von vier Monaten um die Hälfte zurückgegangen. Von den 2.500 Anträgen, die im März täglich eingingen, wurden nicht einmal 400 bewilligt. Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, die auf den Todeslisten der Islamisten obenan stehen, werden bevorzugt behandelt. Für einfache Leute besteht jedoch so gut wie keine Chance für eine Ausreise.

Wer frisch in Vaujours gelandet ist, atmet erst einmal durch, daß er dem alltäglichen Terror entkommen ist und daß er hier kostenlos essen und wohnen kann. Die 16jährige Lilia genießt, daß sie sich wieder frei bewegen kann. „Die Jungen in meiner Schule sagten, ich müsse den Schleier tragen. Sie haben mich geschlagen und mit Steinen beworfen“, erzählt das Mädchen. Für die Kinder und Jugendlichen fällt der Schulunterricht aus, solange sie im Übergangsheim leben. Die kleine Aisha, die überhaupt erst durch die Flucht erfahren hat, daß sie auch eine französische Wurzel besitzt, versucht beim Spielen, ein paar Brocken Französisch aufzuschnappen. Ahmid, der sein sechstes Kind erwartet, ist voller Tatendrang: „Man muß nur anpacken, dann geht es auch aufwärts“, sagt der Handwerker zuversichtlich und läßt sich durch die hohen Arbeitslosenzahlen nicht irritieren. „Ich scheue mich auch nicht vor harter Arbeit“, sagt er, „Arbeit hat noch nie jemanden getötet.“ Haus, Auto, Arbeit – wie alle im Transitheim, so hat auch Ahmid alles aufgegeben, was er besaß. Doch ein Zurück, ist er sich sicher, wird es nicht geben: „Algerien – damit ist für mich Schluß.“

Das Leben im Übergangsheim zermürbt. Nach ärztlicher Untersuchung und einem ersten Orientierungsgespräch beginnt eine lange Wartezeit. Eine Bibliothek, eine Tischtennisplatte und ein Fernsehraum bieten wenig Abwechslung. Paris ist nah und fern zugleich, denn das Ticket für Bus und Bahn können sich die wenigsten leisten: 15 Mark kostet die Fahrt. Die Erwachsenen erhalten nur 30 Mark Taschengeld in der Woche, Kinder 1,50 Mark. Da wird der Blick auf Eiffelturm und Notre-Dame zum Luxus. „Eigentlich sollte es hier nur drei Wochen dauern“, sagt eine Biologiestudentin aus Oran, die schon anderthalb Monate hier ist. Sie wartet darauf, daß sie in ein anderes Heim gebracht wird, irgendwo in Frankreich. Zehn Zentren gibt es für die Repatriierten. Dort können sie etwa zwei Jahre bleiben. So lange, so heißt es optimistisch in der Broschüre des „Komitees zur Hilfe für heimkehrende Franzosen“, „bis sie dauerhafte Arbeit, eine stabile Wohnung und finanzielle Autonomie gefunden haben“. „Im Konsulat wurde uns doch Hilfe versprochen“, sagt die Studentin. „Daß es so lange dauert, hätte ich nicht gedacht.“