■ Mit EU-Kandidaten auf du und du
: Wiener Groschenzähler

Berlin (taz) – Die Österreicher sind für ihren Wankelmut hinreichend bekannt. Im Lande Siegmund Freuds, das permanent zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplexen hin- und herschwankt, müssen sich die Wirtschaftsverbände seit Monaten wie Prediger in der Wüste vorkommen. Ein mögliches Debakel bei der morgigen Volksabstimmung über den EU-Beitritt vor Augen, ließen sie nichts unversucht, die Bedeutung für den Standort Österreich herauszustellen. Das Wachstum hänge vom Ausgang des Referendums ab, sagen auch die Konjunkturforscher und legen beachtliche Zahlenwerke vor: Bei einem „Ja“ darf die rot-weiß-rote Donaurepublik mit einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von bis zu drei Prozent rechnen, bei einem „Nein“ dürfte es nur halb so groß ausfallen. Auch der Beschäftigungseffekt, so das allseits anerkannte Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo, sei im Falle eines Betritts mit schätzungsweise 42.000 neuen Arbeitsplätzen bis zum Jahr 2000 durchweg positiv. Zwar wird es in einigen Branchen wie der Landwirtschaft, dem Handel oder der Nahrungsmittelindustrie zu einem erheblichen Stellenabbau kommen, der aber durch den Zuwachs im Bauwesen, der Metallindustrie und dem Dienstleistungsgewerbe deutlich übertroffen wird. Noch günstiger fallen die Prognosen über Investitionen und Handelskosten aus: Bei einem Beitritt dürften die Bruttoinvestitionen bis zur Jahrtausendwende um neun Prozent zunehmen, bei einer Ablehnung dagegen droht ein Exportverlust von 3,5 Milliarden Mark oder umgerechnet ein Prozent des BIP.

Keine Frage, die Industrie will die EU-Mitgliedschaft – nicht zuletzt, um die notwendige Strukturreform zu beschleunigen und endgültig den welkenden Veilchenduft der k.u.k.-Gesellschaft zu vertreiben. Seit Jahren schon haben Wirtschaftsexperten, Unternehmen und Gewerkschaften ihr Klagelied mal von vorne, mal von hinten angestimmt und immer den gleichen Refrain gesungen: Die Wirtschaft des neutralen Kleinstaats blicke nicht über den Zaun, ihre Geschäfte reichten kaum über einen Radius von 300 Kilometern über das Land hinaus. Jetzt soll der Beitritt als neue Chance genutzt werden.

Ob das allerdings dem betulichen Alpenvolk so gefällt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Schließlich liegt die Arbeitslosigkeit in der EU weit über der Österreichs (1993: 6,8 Prozent), und eine ordnungspolitsche Wende samt drohender Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse will ohnehin keiner hinnehmen. Nicht auszudenken, ein Österreich ohne Hofräte, Amtsstuben und Stempelmarken! Und erst die Kosten des Betritts! Daß der mit Zahlungsverpflichtungen von 4,8 Milliarden Mark bis 1999 nicht gerade billig ausfällt und selbst nach diversen Rückflüssen noch ein Nettobetrag von 1,7 Milliarden übrigbleibt, dürfte die EU- Ressentiments noch erhöht haben. Für wackere Österreicher kommt das Gute ohnhin aus der Schweiz: Für die Neutralität ist der Nachbar Vorbild, in Sachen Bankgeheimnis hat man sogar die Züricher und Genfer Adressen überflügelt, und im Kampf gegen den mörderischen Alpentransit läßt sich von den Eidgenossen noch einiges lernen. Erwin Single