Der Same trieft, die Träne quillt

■ Hans Henny Jahnns Drama „Armut, Reichtum, Mensch und Tier“ im Schauspielhaus reanimiert

Mannsgroße Findlinge markieren auf dem in die Bühnentiefe ansteigenden Bretterboden die Ereignisfelder vom Talbauernhof bis zur Bergwiese. Darüber schwebt - im von Siegfried E. Mayer entworfenen Bühnenbild - der halbe Globus umflort von treibenden Wolken. Im naturalistischen Ambiente entfalten sich - nach amorphem Tusch aus Glöckchen, Geigen und Geräuschen - wunderliche Glaubenswelten skandinavischer Landwirte: Da muß der Mann arbeiten, heiraten und das Weinen lassen; wer anders ist, der ist suspekt und verzaubert auch Mädchen in Pferde.

Armut, Reichtum, Mensch und Tier, der Titel des 1933 von Hans Henny Jahnn beendeten Dramas, ließe sich unschwer um „Liebe, Lüge, Lust und Leid“ ergänzen. Hans Henny Jahnn (1894-1959), das unbekannte Wesen: Schriftsteller, Dramatiker, Orgelbauer, Verleger, Tonsetzer, Außenseiter, homosexuell und mit einer Frau verheiratet, spät geehrt und stets gerade noch am Leben gehalten mit Förderungen der Hamburger Kulturbehörde. Die erste Anstrengung, Jahnns Werk - zum 100. Geburtstag am 17. Dezember - in weitere Schichten zu filtrieren, unternimmt nun das Schauspielhaus. Am Sonnabend hatte Armut, Reichtum, Mensch und Tier, 1948 ebendort uraufgeführt, in der Inszenierung von Harald Clemen Premiere. Immerhin mehr als artig beklatscht von den einen, dekoriert mit abgekartet wirkenden Buhrufen von den anderen. Und, war es nun - vom Jubiläum abgesehen - eine lohnende Ausgrabung oder die versuchte Reanimation eines verschrobenen, von Triebhaftigkeiten und männlichen „Mächten“ triefenden Blut-und-Hoden-Dramas?

Manao Vinje, der junge reiche Bauer, hat nur Augen für seine Stute. Wie Großinquisitoren reden also anfangs drei gutmeinenden Kumpels auf ihn ein, er solle heiraten, die Anna eben, die schon überall erzähle, sie sei dem Vinje versprochen. Aber Vinje, dem Stephan Bissmeier zunächst Aufrichtigkeit und Naivität eines anrührend liebenden Simpels verleiht und ihn später ohne Angst vorm Pathos ins tragische Fach abdriften läßt, will jenes arme Mädchen freien, dem er vor Jahren einen Blick zuwarf. Dieses erste Bild hilft, in dem Drama sogar aktuelle Bezüge zur Ausgrenzung andersdenkender, -lebender oder -farbiger Menschen zu entdecken. Klare, zeitlose Konflikte: Über soziale Schranken hinweg liebt Vinje Sofia, und Sofia liebt Vinje. Aber auch die reiche Anna will Vinje haben und kriegt ihn mit Tücke und Hilfe des Knechtes Gunvald, der wiederum ungestüm Sofia begehrt. Dabei läßt Markus Boysen den Knecht Gunvald Tosse zum lüstern dampfenden Opfer seiner Triebe werden, der Sofia anbrüllt: „Ich will dich heiraten“, und sie mit Lügen über den geliebten Vinje gefügig macht, um sie dann in seine starken, glänzend geschminkten Arme zu nehmen.

Inka Friedrich ist Sofia, die arg- und selbstlos Liebende, Annelore Sarbach ist Anna, die habgierig ihren Begehrlichkeiten folgende Agrarmanagerin. Kaum auszuhalten, wie da alle ins Unglück rennen und den falschen Freunden vertrauen. Briefe werden gefälscht, Liebende verraten und getrennt. Die böse Anna wird zur Beute des Knechtes Ole, Josef Ostendorf wird von Szene zu Szene feister bis er einem fetten Breugelhschen Völler gleicht. Es ist das Ensemble, das aus der moritatenhaften Ballade Funken schlägt, sie über manchen, heute unfreiwillig komischen Satz hinwegrettet und dem bäuerlichen Bilderbogen glaubhafte Gestalten abringt. Ob das nun Jahnns Vorstellungswelten nahe kommt oder nicht, darüber stritten die Experten bis in die tiefe Nacht. Der erdigfarbene Abend aber macht immerhin etwas neugieriger auf das Werk des Hamburger Hormonforschers, Pferdezüchters und Sprachartisten Jahnn. Julia Kossmann