„Europawahl ist Test für Bundestagswahl“

■ OstberlinerInnen sind geteilter Ansicht über die Bedeutung der Europawahl

Strahlendes Sommerwetter lockte die BerlinerInnen gestern weniger in die Wahl- als in die Ausflugslokale. Am frühen Nachmittag war der Andrang im Stimmbezirk 090 im Prenzlauer Berg recht spärlich. Eine ältere Frau hilft ihrem blinden Gatten die Stufen herunter. „Wir haben uns noch nie geweigert, an einer Wahl teilzunehmen“, sagt die Rentnerin. „Außerdem will ich nicht, daß die Republikaner rankommen“, ergänzt ihr Mann. Für ihn ist die Europawahl eine „Testwahl für die Bundestagswahl, weiter gar nichts“. Auch die 22jährige Buchhändlerin ist „aus Angst, daß die Rechten hochkommen“, wählen gegangen. „Man muß seine Mitbestimmungsrechte doch nutzen“, sagt das ältere Ehepaar an der Bushaltestelle. Auch sie haben „gegen Rechts“ gewählt. Europa finden sie „wichtig“. Die Runde, die in der Gartenkneipe in der Choriner Straße ein kühles Pils trinkt, ist dagegen schlecht auf Europa zu sprechen. „Was bringt uns denn die EG?“ regt sich einer auf. „Die Deutschen müssen immer nur zahlen, zahlen, zahlen, und es ist nicht nachvollziehbar, wo das Geld hinfließt“, schimpft er. „Die EG sollte wegen des Rinderwahnsinns einen Importstopp gegen britisches Rindfleisch verhängen, aber das kriegen sie nicht hin.“ „Im Europaparlament wird nichts bewegt“, lautet das Fazit der fünf zwischen dreißig und vierzig Jahre alten Männer und einer Frau, die sich als „politisch interessiert“ bezeichnen.

Die meisten in ihrem Bekanntenkreis würden nicht zur Europawahl gehen, sagt auch eine 39jährige Lehrerin aus Prenzlauer Berg. Sie kritisiert, daß die Parteien gar nicht erklärt hätten, mit welchen politischen Zielen sie zu dieser Wahl antreten. Außerdem dringe nur sowenig über die Arbeit des Europaparlaments hierher. Vollkommen leidenschaftslos zeigt sich ein 26jähriger Sportstudent, der „nie wählen geht“. Das bringe doch sowieso nichts.

Zu den rund 2,5 Millionen wahlberechtigten Berlinern gehören auch 3.000 in Berlin lebende EU- Bürger. Doch auch die französischen Soldaten in der Cite Foch fanden bis zum Nachmittag nur vereinzelt den Weg ins Wahllokal.

Auf dem Kreuzberger Oranienplatz haben drei türkische Frauen Schafswolle ausgebreitet und zupfen die klumpige Rohwolle zu feinen Flocken. Von der Europawahl haben sie nichts mitbekommen. „Die meisten interessiert das nicht, weil sie sowieso nicht wählen können“, meint eine 20jährige Türkin. Doch die meisten Befragten würden es befürworten, wenn die Türkei der Europäischen Union beitreten könnte. „Dann hätten wir mehr Rechte und würden nicht mehr wie Ausländer behandelt“, sagt eine junge Frau, und ihr Ehemann stimmt ihr zu. „Dann bekämen wir das kommunale Wahlrecht“, sagt eine andere junge Frau. „Und wir müßten nicht jedesmal ein Visum beantragen, wenn wir in Europa reisen möchten.“ Ein 30jähriger Schweißer sorgt sich um die Deutsche Mark. „Man weiß nicht, ob sie stärker wird oder schwächer. Wenn sie wegen Europa schwächer wird, wäre das schlecht.“ win/perl