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Geheime Verschlußsache: Frischei

■ Ohne an Staatsgeheimnisse zu rühren, konnte in der DDR kaum geforscht werden

Kennen Sie Hansjoachim Valentin? Wahrscheinlich nicht. Er gehörte zu den DDR-Wissenschaftlern, die für die Öffentlichkeit nicht existierten, deren Forschungsergebnisse aus Gründen nationaler Sicherheit im Tresor verschwanden. Sein Spezialgebiet: Eier.

Was Valentin über das DDR-Ei herausgefunden hat, ist bis heute ein Geheimnis der SED-Kader geblieben. War das sozialistische Huhn weniger legefreudig als sein Artgenosse im Westen? Hätte im Kriegsfall ein Sabotageakt die Frischeikombinate lahmlegen und damit die Bevölkerung aushungern können? Was für wiedervereinte Ohren befremdlich klingt, wurde jahrzehntelang mit wahnwitzigem Eifer betrieben. Eine Veröffentlichungspflicht westlichen Zuschnitts kannte der Forschungsbetrieb in der DDR nicht. Warum Staatsfeinden in den Rachen werfen, was man ebensogut als Dienstsache, vertrauliche Dienstsache, Verschlußsache, vertrauliche Verschlußsache oder gar geheime Verschlußsache deklarieren konnte?

Die Bochumer Politologen Wilhelm Bleek und Lothar Mertens haben sich nun die Arbeit gemacht, in den Karteien zu stöbern. Sie fanden heraus, daß jede sechste Dissertation so aus dem Verkehr gezogen wurde. Bei dieser riesigen Menge ließ sich kaum vermeiden, daß auch tatsächlich einmal brisantes Material darunter geriet – Schalck-Golodkowskis Vorschläge für die „Erwirtschaftung zusätzlicher Devisen“ oder Berichte ehemaliger Spione wie Hansjoachim Tiedge.

Aber bei den meisten wissenschaftlichen Arbeiten sind schon die Geheimnisgründe ein Geheimnis: Vordergründig beschäftigen sie sich mit Mastschweinezucht, der Bierwürzeklärung oder der Qualitätssicherung von Emmentaler Käse; welche politischen Winkelzüge die harmlosen Decknamen verschleiern, ist bis heute ein Geheimnis geblieben und nicht nach außen gedrungen.

Angefangen hatte die Geheimniskrämerei mit einem Erlaß „zur Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik unter den Bedingungen des sich verschärfenden internationalen Klassenkampfes“ aus dem Jahre 1971. Darin wurden die Sektionsleiter der Universitäten angewiesen, einzuziehen, was dem Klassenfeind nützen, das heißt, dem Genossen Parteisekretär mißfallen konnte. Wer großzügig aussortierte, vermied nicht nur Ärger, sondern gab seiner und seiner Kollegen Tätigkeit zugleich die Aura des Bedeutsamen.

Da einige Provinz-Universitäten sich nicht scheuten, mehr als die Hälfte ihrer Dissertationen mit dem „Vertraulich“-Stempel zu veredeln, wuchsen über die Jahre regelrechte Schattenbibliotheken mit Zigtausenden Aufsätzen in insgesamt sieben verschiedenen Geheimhaltungsstufen. Selbst die Kataloge, die diese Schriften erfaßten, waren mit dem „Geheim“-Stempel versehen.

Parallel dazu erhielt jeder Bürger einen Konspirationsstatus, nach der die Bibliothekare zu entscheiden hatten, wer wann unter wessen Aufsicht welche Teile welcher Arbeiten einsehen durfte. Der gemeine Westdeutsche zum Beispiel wurde schon an der Tür abgewiesen, wenn man ihn erkannte. „Da mußte man schon das Lacoste-Hemd ausziehen und hoffen, daß einen keiner ansprach“, erzählt Lothar Mertens, der sich einige Male, als Ossi getarnt, hineinschleichen konnte.

Und als das Ende der DDR sich abzeichnete, landeten die verbotenen Früchte der Forschung im Reißwolf? Weit gefehlt – längst schon waren den Sicherheitsneurotikern ihre eigenen Vorsichtsmaßnahmen über den Kopf gewachsen. Bis auf wenige kriminalistische und sportwissenschaftliche (Doping!) Dissertationen fiel alles dem Klassenfeind in die Hände, und es ist nunmehr eine Frage der Zeit, bis die vergleichende Ei-Wissenschaft Geheimnisträger Hajo Valentin unter ihre Fittiche nehmen kann.

Manchem Dissertanten dürfte mulmig werden, denn mitunter war strikte Geheimhaltung einer Arbeit der letzte Ausweg des Doktorvaters, wenn der ansonsten anstellige Schützling versagt hatte. Also aufgepaßt, Bibliothekspförtner Ost, wenn neuerdings verdächtige Personen mit Lacoste-Hemd und tragbarem Dokumentenvernichter Einlaß begehren. Michael Allmaier

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