„Der besondere Charme der Verkürzung“

■ Den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß vernünftig organisieren: Ein Interview mit Ingrid Kurz-Scherf vom Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg

taz: Ist die gewerkschaftliche Forderung „Arbeit für alle“ eine Utopie, von der wir uns heute angesichts wachsender Arbeitslosigkeit verabschieden müssen?

Ingrid Kurz-Scherf: „Arbeit für alle“ ist für mich keine positive Utopie, da müßte man schon dazu sagen, was das für eine Arbeit sein soll und wie sich die Arbeit ins ganze Leben einfügen soll. Aber genau diese positive Utopie vom guten Leben und von sinnvoller Arbeit in diesem guten Leben haben die Gewerkschaften nicht.

Welche Stoßrichtung hat der offene Briefe von WissenschaftlerInnen zur Arbeitszeitverkürzung an den DGB-Kongreß?

Es ist ein Appell an die Delegierten, sich nicht klammheimlich mit der Massenarbeitslosigkeit abzufinden, sondern nach Möglichkeiten zu deren Beseitigung zu suchen und sich selbst auch für sie einzusetzen. Die Forderung nach der Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit ist etwas ganz anderes als die Formel „Arbeit für alle“, bei der Arbeit immer nach dem überkommenen Muster des Normalarbeitsverhältnisses gedacht wird. Der besondere Charme einer konsequenten Arbeitszeitverkürzung liegt dagegen darin, daß sie gleichzeitig ein Beitrag zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit und zur Reform des Normalarbeitsverhältnisses leistet. Der VW- Abschluß hat die Diskussion endlich wieder in Richtung Arbeitszeitverkürzung gelenkt. Im Moment ist das öffentliche Klima relativ offen. Es käme jetzt darauf an, daß die Gewerkschaften dies nutzen. Eine neue Allianz von Wissenschaft und Gewerkschaft könnte dazu vielleicht einen Beitrag leisten.

Wie halten Sie es mit der Forderung nach Lohnausgleich?

Die Meinungen zum Lohnausgleich gehen weit auseinander, auch unter den Unterzeichnenden des offenen Briefes. Das ist einer der Hauptpunkte, die wir auf einem Fachkongreß im Herbst mit Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen diskutieren müssen. Ich persönlich wende mich gegen das Dogma des vollen Lohnausgleichs, wenn es eine Beschleunigung oder Reaktivierung der Arbeitszeitverkürzung blockiert. Im nachhinein hat es sich als großer Fehler der Gewerkschaften erwiesen, daß sie nicht schon damals das Lied vom Teilen, das Oskar Lafontaine angestimmt hatte, mitgesungen haben. Sicher in einer anderen Tonlage und vielleicht auch nach einer anderen Melodie. Jetzt jedenfalls kommen sie um die Diskussion übers Teilen nicht herum, und sie sind denkbar schlecht gerüstet. Ich bin auf der anderen Seite allerdings nicht dafür, das Prinzip des Lohnausgleichs grundsätzlich aufzugeben. Kurzfristig im Sinne einer Krisenintervention ja, langfristig nein.

Tarifpolitik wird zukünftig unter anderen Voraussetzungen als in der Vergangenheit stattfinden: Es gibt keine Zuwächse mehr zu verteilen und gleichzeitig wächst der soziale Druck. Worin muß die neue „Qualität“ von Tarifpolitik bestehen?

Es geht um mehr qualitative und weniger quantitative Tarifpolitik. Nur muß man sich vor Illusionen hüten, denn auch sie ist manchmal teuer, und Konflikte mit den Arbeitgebern werden nicht sanfter, wenn es um Macht geht. Ich will nur ein paar Stichpunkte nennen: Bildung, Weiterbildung, Mitsprache und Beteiligung, aber vielleicht auch ganz neue Formen der Umverteilung von Ressourcen vom individuellen Konsum in Bereiche des kommunalen Bedarfs usw. Was die Lohnpolitik anbelangt, so wird die Lohnstrukturpolitik, d.h. auch die Eröffnung beruflicher Entwicklungschancen gekoppelt mit der Einkommenskomponente, in Zukunft mehr Bedeutung bekommen. Eine besondere Herausforderung liegt bei dieser Strategie darin, die Lohndifferenzierung und Lohnbindung von allen diskriminierenden Elementen gegenüber Frauen und Frauenarbeit zu bereinigen.

Wo liegt die neue Arbeit der Zukunft, wenn sie nicht mehr in der technischen und industriellen Facharbeit liegt, die traditionell die Tätigkeit von Gewerkschaften dominiert hat?

Es geht darum, den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß insgesamt vernünftiger zu organisieren. Ein Punkt dabei ist, daß wir uns endlich von dem auf Industriearbeit und die Entwicklung und Anwendung eines technikfixierten Begriffs produktiver Arbeit lösen müssen. Der gesellschaftliche Reichtum ist das Produkt des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses als Ganzes. Der Lehrer, die Hausfrau und die Dichterin sind nicht minder beteiligt als der deutsche Facharbeiter. Der Gesellschaft geht nicht die Arbeit aus, sie klebt nur an einem Paradigma von Arbeit, das längst überholt ist. Wenn Gewerkschaften sich davon lösen könnten, hätten sie genug zu tun mit der Organisation gesellschaftlich sinnvoller Arbeit und mit der Vertretung und dem Ausgleich der ja durchaus unterschiedlichen Interessen derjenigen, die diese Arbeit verrichten. Dann hätten die Gewerkschaften vielleicht auch Zugang zu einer neuen Verteilungspolitik, in der Geld vorrangig ein Medium ist, mit dem man in einer arbeitsteiligen Gesellschaft den Austausch von Gütern und Dienstleistungen fair organisiert. Vielleicht könnten die Gewerkschaften über diesen Zugang dann auch endlich ein kritisches Verhältnis zum kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickeln. Interview: Mechtild Jansen