Im Land der Skipetaren

Der Große Führer und sein Double. Der neuseeländische Schriftsteller Lloyd Jones reiste durch Albanien und traf ein wahrhaftes Gespenst – den „Mann, der Enver Hodscha war“  ■ Von Marko Martin

Bis 1990 war Albanien die letzte Terra incognita in Europa, noch verschlossener und mysteriöser als Ceausescus Karpatenreich. Als dann in der Hauptstadt Tirana die ersten ausländischen Botschaften belagert wurden, ein Massenexodus über die Adria nach Italien einsetzte und im Land selbst die ersten Denkmäler des stalinistischen Übervaters Enver Hodscha geschleift wurden, nahm die Welt das Land erstmals wieder zur Kenntnis.

Im Jahre 1991 – inzwischen hatte es freie Wahlen gegeben, die die gewendeten Kommunisten erneut an die Macht brachten – begibt sich der neuseeländische Schriftsteller Lloyd Jones auf eine Reise nach Albanien. Er sucht den Menschen, der dem Buch in der deutschen Ausgabe seinen Titel gab: den „Mann, der Enver Hodscha war“.

Gemessen an der Dramaturgie eines Gruselstücks, das man da erwarten könnte, ist der erste Satz eine Enttäuschung: „Ich suchte nach Petar Shapallo, aber das Gesicht, das jenes von Petar Shapallo gewesen war, war unter dem Messer eines Chirurgen verschwunden.“ Lloyd Jones legt keine kunstvoll falschen Spuren, sondern erzählt dem Leser gleich alles zu Beginn: Der Zahnarzt Petar Shapallo hatte das Pech, nicht nur im gleichen Monat wie der Diktator Hodscha geboren zu sein, sondern diesem auch noch verblüffend stark zu ähneln. „Den Rest meißelte der Chirurg. Friseure und Schneider arbeiteten an Shapallo, um die Ähnlichkeiten zu vervollkommnen. Der Diktator sah gelegentlich herein und verfolgte den Schöpfungsprozeß... Einmal überzeugt, daß das Abbild nicht verbessert werden konnte, ließ er Shapallos Familie töten – seine Frau und zwei Töchter, acht und zehn Jahre alt. Als nächstes waren die Chirurgen, Friseure und Schneider an der Reihe... Shapallo war der perfekte Schatten. Er nahm ab, wenn der Große Führer eine Diät machte; ihr Haaransatz zog sich zur gleichen Zeit zurück, und wenn sich der große Führer einen Knöchel verstauchte, hinkte auch Shapallo.“

Der Blick des Großen Führers

Wenn dann Jones aber schildert, wie Shapallo nach dem Tod Hodschas frei und einsam durchs Land irrt und die abergläubischen Bauern ihn wie einen bösen Geist fliehen, rundet sich die Sache doch noch zur Schauergeschichte. Nun wäre Gelegenheit für einen Diskurs über den fremdgesteuerten Menschen – hier in der Industriegesellschaft, da in der archaischen Tyrannei – und die normalerweise darauf intellektuelle Bankrotterklärung des „Verständnisses“: Andere Länder, andere Sitten, Kalter Krieg, Lob des langsamen Lebens und vormoderner Beschaulichkeit – all das Zeug halt, mit dem sich in den achtziger Jahren ein Günter Gaus zum „DDR-Experten“ aufplustern konnte. Lloyd Jones schert sich einen Teufel um derlei subtile Psychologie und beginnt in bester angelsächsischer Tradition zu erzählen.

Annäherungsprosa, persönliche Befindlichkeitsschilderungen sind Jones' Sache nicht; er zeichnet absurde Geschehnisse auf, Bruchstücke, die sich nie zu einem Ganzen verbinden lassen: „In den Bergdörfern hat die Sterblichkeitsrate bei Kindern die von afrikanischen Katastrophengebieten erreicht... Bald stoße ich auf dem Spielplatz, der den Einwohnern von Kukes versprochen worden war. Doch nur der Luftschutzbunker des Spielplatzes hat es bis zur Fertigstellung geschafft, ebenso die weiße Betonskulptur einer Mutter, die ihr Kind wiegt. (...) Beim ersten Mal hatte Enver die Kupferhütte besucht. Beim zweiten Mal war Enver während eines Spazierganges plötzlich stehen geblieben und hatte auf den kahlen Berghang gestarrt. Die örtlichen Parteigenossen bemerkten sofort, daß sich seine berühmten Lachfalten vor Mißbilligung angespannt hatten, und am nächsten Tag, als der Blick des Großen Führers auf dieselbe Stelle fiel, wuchs dort ein Baum.“

Grimms Märchen auf Albanisch

Kein Kommentar. In manchen Bergdörfern, die der Autor auf der Suche nach Shapallo durchstreift, hat man seit den Serben im Mittelalter keine Ausländer mehr gesehen, während in der Hauptstadt Jones' Gesprächspartner von anderen Obskuritäten erzählen: einer damals offiziell geplanten albanischen Version der Grimmschen Märchen etwa oder den Sendungen Radio Tiranas in chinesischer Sprache, um die gelben Brüder wieder auf den roten Weg zurückzuführen – Sendungen freilich, die die Chinesen mit ihren Radios nie empfangen konnten...

Die erschütterndste Episode in diesem Buch ist zweifellos die, wo sich der Autor im „Haus der biografi“, einer albanischen Version der Gauck-Behörde, die Geschichten von Menschen erzählen läßt, die zu den Opfern der in regelmäßigen Abständen immer wieder das Land überrollenden Säuberungswellen wurden. Jahrzehntelange Haft, Verbannung, Pariaexistenz, Hunger, das Graben mit der Hand nach Feldfrüchten im Europa der siebziger und achtziger Jahre.

Die Lebensläufe dieser Menschen, ihre „biografi“ geben den Titel für die englische Originalausgabe, der den Inhalt dieses unglaublichen Buches viel besser bestimmt: Schicksale aus ihrer Anonymität herauszuholen, aus Zahlen wieder Menschen werden zu lassen. „Der Registrator sagte, daß jährlich zwischen 4.000 und 5.000 Menschen mit ,schlechten biografite‘ bestraft oder inhaftiert worden waren. Er forderte mich auf, die Zahl mit 45 zu multiplizieren... Pina Dushai hatte in einem Getränkeladen in der Nähe eines Wasserwerkes gearbeitet. Es war um die Zeit von Envers Abspaltung von den ,chinesischen Abweichlern‘. Da viele Kunden des Getränkeladens chinesische Techniker waren, wurde Pina des ,Volksverrates‘ beschuldigt und zu 13 Jahren Haft in Kucove verurteilt. Um der Selbsterhaltung willen ließ sich ihr Mann scheiden. Ihre Kinder wurden in ein Waisenhaus gebracht.“ Lloyd Jones zeichnet auf und gibt kein Resümee, weil es nichts weiter zu sagen gibt, weil sich kein höherer Zweck herauskristallisiert, weil es ein sinnlos versautes Leben ist.

Verschweißte Volksgemeinschaft

Allein wegen Passagen wie jener, die die Hilflosigkeit des Autors vor den Blicken dieser Frau beschreibt, lohnt die Lektüre dieses Buches. Denn es ist auch eins über den Westen. Jones läßt sich aber nicht lang und breit über geheime Affinitäten zu Diktaturen aus. Statt dessen erzählt er von seinem Nachbarn in einer neuseeländischen Kleinstadt, der ihn erst auf den Gedanken einer Albanienreise gebracht hat.

Cliff ist ein Hobbyfunker und komischer Kauz, über den man im Laufe der Geschichte immer mehr erfährt. So langsam fügen sie sich zusammen, die Dankesbriefe von Radio Tirana, die albanischen Wimpel und Cliffs langweilige Pensionärsexistenz. Da ist doch das ferne Land am Balkan ein ganz anderes Kaliber, da lebt sich's asketischer, eigentlicher, heroischer. Selbst einmal hinfahren darf er dann, der schüchterne Cliff, und an ausgewählten Orten die eng zusammengeschweißte Volksgemeinschaft kennenlernen. Lloyd Jones flicht diese Geschichte einer Verführbarkeit aus Ungenügen und Langeweile an der eigenen Existenz in seine Recherche ein; sie wird hier zur Parabel westlicher Faszination für den totalitären Alltag.

Die Gegenfigur ist Nick, ein junger albanischer Flüchtling, den Jones in Rom trifft und von dessen radikaler Hinwendung zum Klerus der aufgeklärte Schriftsteller genauso überrascht ist wie von dessen Satz: „Hodscha hat damals versucht, mir das ewige Leben zu verweigern!“ Als Jones nach Albanien kommt (für ungeduldige Leser: und dort auch endlich Petar Shapallo findet), besucht er Nicks Eltern und läßt sich das Zimmer ihres Sohnes zeigen. Hier findet Jones auch eine Art Westen, heimlich bewahrte Andenken an ein freieres Leben, das pure Gegenteil zu den kitschigen Devotionalien des unzufriedenen Hobbyfunkers. Jedem, der sich den Osten mit ähnlichen Dingen vom Leib zu halten versuchte, wird es beim Lesen dieser Seiten wohl ähnlich gehen wie dem Rezensenten: Die knappe Schilderung der Fundsachen in Nicks Zimmer in Albanien geht zu tief unter die Haut, alles wird noch einmal lebendig.

English lernen mit Duran Duran

Einzelne Seiten westlicher Zeitungen, die Nick von Touristen erbettelte und die er wie Schätze hütete, Briefe wie Rettungsanker aus Holland, Deutschland, England, Songtexte von Elton John, Samantha Fox, Duran Duran zum Englischlernen und schließlich das Anrührendste: ein Stadtplan von London, auf den er mit einer blauen Linie den Weg von Victoria Station bis zum Haus seiner englischen Freunde im voraus gekennzeichnet hatte. Jones kommentiert lakonisch: „Ich stellte mir vor, wie zwei oder drei etwas dümmliche englische Knaben, die irgendeinen Computerjob hatten, ihren Sensationshunger an Nick stillten.“

Konträre Ost-West-Erfahrung in einem Satz. Und dann das Ende in Rom: die viel zu freie Freiheit, das Verschwinden der Projektionen in lärmender Realität und der Weg zurück ins innere Albanien der Seele, in die Totenstille der Klostergänge und reinen Lehren; ein Jahrhundertthema kommt hier als Episode daher. Gewiß, die preisenden Bezeichnungen für gute Bücher sind inflationär, also lassen wir's lieber gleich bleiben. Nur die Bitte: lesen!

Denn von derart spannender Reiseprosa ist das deutsche Publikum nicht gerade verwöhnt.

Llyod Jones: „Der Mann, der Enver Hodscha war“. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Hanser Verlag, 260 Seiten, geb., 36 DM