Die Zukunft auf den Dörfern

In indischen Dörfern greifen die vergessenen Armen zur Spindel / Mit lokalem Tauschhandel gegen Lethargie und Hunger  ■ Aus Sheenan Peter Moll und Petra Schwiegershausen

Den Wagen parken wir am Rand des Dorfes. „Es ist besser, zu Fuß zu den Leuten zu gehen“, sagt die Armutsbekämpferin und ehemalige UN-Beraterin Nandini Joshi. Nur Politiker kämen mit dem Auto vorgefahren, und mit denen will sie nicht verglichen werden. Wir fragen, wo die ehemaligen „Unberührbaren“ wohnen. Offiziell gibt es diese Bezeichnung nicht mehr, aber diese Menschen gehören noch immer zu den Benachteiligten in Indien. Der, der uns zu ihnen führt, ist der Neffe des wohlhabendsten Bauern am Ort. „Gut“, sagt Joshi zu uns auf englisch, „dann kann ich ihn vielleicht auch gleich für meine Idee gewinnen.“ Denn das weiß sie aus Erfahrung, ohne den Patron, den einflußreichsten Bauern am Ort, wird ihr Vorhaben schwierig.

Wir sind in Sheenan, 20 Kilometer außerhalb von Ahmedabad, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Gujarat. Joshi will den Ärmsten der BewohnerInnen von Sheenan ihr Projekt vorstellen: die lokale Produktion von handgearbeiteten Textilien mit Hilfe der Charkha, des Spinnrads also, auf das schon Mahatma Gandhi gesetzt hat. Hilfe zur Selbsthilfe nennt sie das. Joshi hat in Harvard promoviert und ist eine angesehene Wirtschaftswissenschaftlerin in Indien. Desillusioniert von staatlichen und UN-Programmen zur Armutsbekämpfung, widmet sie sich inzwischen dieser Aufgabe in Eigeninitiative und fährt privat auf die Dörfer in der Nähe ihres eigenen Wohnortes. Wir begleiten sie.

Es ist Sonntag. Die Männer sitzen auf dem Dorfplatz, unterhalten sich oder spielen Karten. Die Kinder tollen mit den Hunden herum, und die Frauen bereiten das Mittagessen zu: Dal mit Reis, wie jeden Tag. Der Empfang ist herzlich. Die Männer machen für uns Platz auf dem Charpoy, einer Liege aus Hanfseilen, die gleichzeitig als Bett und Sitzgelegenheit dient. Es werden noch zwei Stühle herangetragen, und einer bringt Tee, der aus Untertassen getrunken wird, weil das Trinkwasser knapp ist. In Indien ist es Brauch, einen Gast mit Tee willkommen zu heißen, ob sich die Gastgeber das leisten können oder nicht.

„Auf die Regierung können wir nicht bauen. Die kümmern sich nur um die, die eh schon genug Geld in den Taschen haben, und natürlich um sich selbst. Uns haben die längst vergessen!“ So einer der Männer, die sich um uns scharen. Seine Stimme klingt bitter. Siebzig Prozent der Dorfbewohner haben nicht genug Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Sie besitzen kein Stück Land und müssen kilometerweit gehen bis zur nächsten Trinkwasserstelle. Ihre Kleider sind abgetragen, zerrissen, zu klein oder zu groß. Von den 5.000 Einwohnern Sheenans haben knapp 300 Arbeit. Alle anderen leben von unregelmäßigen Zuwendungen und Gelegenheitsjobs. Die reichen kaum aus für das Notwendigste.

„Wieviel hat Ihr Oberhemd gekostet?“ fragt Joshi einen der Anwesenden. „80 Rupien“, ist die Antwort. Wie schwer ist es etwa? Vielleicht 200 Gramm. „Würden Sie es selbst herstellen, würde es vier Rupien kosten“, entgegnet Joshi und erläutert den anwesenden Männern ihr Konzept. Sie will der chronischen Arbeitslosigkeit und der Armut etwas entgegensetzen. Sie setzt dabei auf die lokale Produktion von Textilien, denn für Kleidung gibt es, wie für Lebensmittel und Unterkunft, einen ständigen Bedarf. Dieser Bedarf kann durch den Einsatz einfachster Techniken und Eigenproduktion im Dorf gedeckt werden. Unterstützt wird ihre Idee von führenden Entwicklungsorganisationen, die nicht auf bessere Verhältnisse im Land hoffen, sondern selbst Veränderungsprozesse anstoßen wollen. So etwa das in Delhi ansässige „Centre for the Study of Developing Societies“ oder die Umwelt- und Alternativbewegung „Lokayan“. Rajni Kothari, Gründer beider Einrichtungen, sieht mit Joshis Projekt einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufziehen.

Bereits Gandhi hatte große Hoffnungen auf die Spinnrad- Technologie gesetzt und in den Mittelpunkt seiner Arbeit für ein nachkoloniales Indien gestellt. Joshi hat diese Technik bloß weiterentwickelt, und zwar – für uns im Westen erstaunlich – nicht durch „höherwertige“ Technologie ersetzt, sondern noch zusätzlich vereinfacht. Ihr Spinnrad besteht aus zwei kurzen Holzleisten und vier Nägeln für das Rad, dem Deckel einer Blechbüchse und einer Fahrrad- oder Regenschirmspeiche für die Spindel, einem länglichen Stück Holz, das auf der Hinterseite mit einem Streifen alten Auto- oder Fahrradschlauchs bespannt wird, zum Antreiben der Spindel, sowie aus einem Stück Bambus als Ständer. Alles Materialien also, die nicht erst gekauft werden müssen, sondern überall quasi umsonst erhältlich sind.

Wir haben mitgenommen, was wir brauchen: ein Häufchen Rohbaumwolle, eine Schere, einen Bindfaden, einen alten Fahrradschlauch, die einzelnen Bauteile für die Charkha sowie handgewebten und -gefärbten Sari-Stoff aus Baumwolle. Damit läßt sich der Spinnprozeß gut demonstrieren, und auch die fertigen Produkte bleiben auf die Anwesenden nicht ohne Wirkung. Joshi macht es vor und fordert sie auf, es auch zu probieren. Es ist einfach, und mit ein bißchen Übung kann eine Person täglich Garn für 1,6 Quadratmeter Stoff herstellen.

Joshi möchte ihr Projekt nicht in erster Linie als Chance zum Geldverdienen auf den Märkten verstanden wissen. „Wer sollte ihnen die fertigen Baumwollstoffe denn vor Ort abkaufen? Die Leute hier haben kein Geld.“ Es gehe darum, etwas zu essen, zu trinken, Kleidung und ein Dach über dem Kopf zu haben. Für Joshi funktioniert die lokale Textilproduktion am besten als Einstieg in die Tauschwirtschaft: Ware gegen Ware oder Ware gegen Dienstleistung.

Dennoch: Um wirtschaftlich produzieren zu können, sollten höchstens zehn Prozent der DorfbewohnerInnen mit der Herstellung des Garns beschäftigt sein. Damit ist ein Anfang gemacht, und andere Berufszweige können bald dazukommen. Das sind zuerst Baumwollpflanzer und -züchter, Spinnradbauer, Weber, Färber und Schneider. Schließlich soll eine unabhängige Produktions- und Wirtschaftseinheit auf lokaler Ebene entstehen, die sämtliche Dienstleistungen und Konsumgüter miteinschließt. Der Erwerb anderer Waren erfolgt dann jeweils durch direkten Austausch.

Die Männer finden die Idee gut, sind aber skeptisch, was die praktiche Durchführung betrifft. Und ob ihre Frauen einverstanden sind, wissen sie auch nicht. Es gibt auch viele unsichere Blicke, die in unsere Richtung gehen. Einige der Männer wiegen den Kopf, lachen mitunter verlegen oder diskutieren angeregt miteinander. „Wo bekommen wir die Rohbaumwolle her?“ fragt jemand. Joshi wendet sich an den Neffen des örtlichen Großbauern, der aufmerksam zugehört hat: „Am besten wäre, wenn man die hier anbauen könnte und die Bauern einen Teil ihrer Felder dafür zur Verfügung stellen.“ Der Neffe nickt zurückhaltend. Da sind noch einige Gespräche zu führen. Aber einen Besuch beim Patron hat Joshi sowieso eingeplant. Heute will sie wissen, ob die Betroffenen überhaupt an dem Projekt interessiert sind. Und das sind sie. „Wir wollen keine Sklaven mehr sein“, sagt ein junger Mann mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Es wird vereinbart, daß Joshi in 14 Tagen noch einmal wiederkommen soll. Bis dahin wollen die Männer mit ihren Frauen gesprochen und gemeinsam eine Entscheidung gefällt haben.

Wenig später sitzen wir wieder im Auto und fahren in ein Slumgebiet am Rande von Ahmedabad. Hier hat Joshi ihr Konzept schon vor fünf Jahren vorgestellt. Etwas fällt sofort auf: Anstelle von Zelten oder Sackhütten stehen hier recht stabile Holz- und Steinhütten. Kleine Geschäfte säumen den Straßenrand. „Am Anfang waren es nur sechs Familien, die mitgemacht haben“, erzählt eine Slumbewohnerin, die von Anfang an dabei war. „Schon nach einigen Wochen wurden es mehr. Vor allem die alten Leute wollten etwas zu tun haben. Sie sind die besten Spinner.“ Aber es sei auch zäh gewesen, erzählt ihr Mann. Und viel Geduld war nötig. „Doch was hatten wir schon zu verlieren – uns ging's verdammt dreckig“, ergänzt er. Die Familie nebenan hat sich auf das Färben und Bedrucken der Stoffe spezialisiert. „Wir haben immer noch kein Geld. Wir tauschen unsere Arbeitsleistung gegen Waren ein“, gibt die Nachbarin zu bedenken. Doch nach einer Weile sagt sie: „Uns geht es besser, seit wir hier Kleidung herstellen. Wir haben zu essen und ein Dach über dem Kopf.“ Nur das Weben der Stoffe war ein Problem. Sie mußten lange Wege gehen, um die gesponnene Baumwolle zu Textilien verarbeiten zu können. Die nunmehr dreißig Familien, die sich durch die lokale Textilienproduktion ihren Lebensunterhalt verdienen, haben deshalb lange nach einem Weber gesucht. Erst kürzlich waren sie erfolgreich: Seit ein paar Wochen lebt und arbeitet hier jetzt ein Weber.

Für Joshi ist gerade die Eigenständigkeit der Slumbewohner eine Bestätigung dafür, daß ihr Konzept funktioniert. Ein Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nach dem anderen habe versagt, und auch die landeseigene Politik habe immer nur die Besitzenden erreicht. Die internationalen Zuwendungen würden zum Fenster hinausgeworfen oder in die eigenen Taschen gesteckt. „Es ist, als hätte man vergessen, wie man zu Hause kocht, und würde nur noch in Restaurants essen gehen zu sagenhaft teuren Preisen“, vergleicht Joshi die Textilproduktion mit der Nahrungsherstellung. Sie beruft sich dabei auf eine lange Tradition. Das Spinnen und Verarbeiten von Baumwolle spielte in Indien schon vor der Kolonialzeit eine wichtige Rolle. In anderen Dritte-Welt- Ländern, so hofft Joshi, könnte ihr Ansatz ebenso funktionieren. Einladungen nach Kenia, Tansania und Uganda sind bereits an sie ergangen. Die Verantwortlichen dort hoffen auf eine Breitenwirkung der Charkha in den abgelegenen Dörfern des Landes.

„Im 21. Jahrhundert wird es den Menschen sehr viel bessser gehen als heute“, meint Joshi voller Überzeugung. Ob in Indien, Afrika, Lateinamerika oder in den armen Regionen der ehemaligen Sowjetunion – alle könnten ihre eigene Kleidung herstellen und, damit beginnend, ihre Grundbedürfnisse befriedigen. Das ist ihre Vision. Für sie liegt die Zukunft auf den Dörfern. In Indien leben hier sechshundert von insgesamt neunhundert Millionen Menschen. Für Joshi liegt gerade hier ein riesiges Hoffnungspotential, für das sie eine glänzende Karriere als hochbezahlte Wirtschaftsexpertin bei der Regierung in den Wind geschossen hat. Sie ist davon überzeugt, daß die Armut mit dem System der lokalen Tauschwirtschaft weltweit verringert werden kann. Dabei weiß sie von den großen Unterschieden bei der regionalen und kulturellen Prägung und den Schwierigkeiten bei der Übertragbarkeit ihres Konzepts. Trotzdem: Wenn Indien im Jahr 2050 mit fast zwei Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde sein sollte, könne die Zukunft Indiens uns nicht mehr gleichgültig sein. „Bei unserer Armut“, sagt sie, „wissen wir vielleicht am besten, wie der Planet überleben kann.“ Die Natur habe genug für alle, „wir müssen nur zu einer Wirtschaftsform finden, die es allen ermöglicht, an ihren Reichtümern teilzuhaben“.