PDS-Wähler sind keine Deppen

■ Der Kreuzberger Bürgermeister und Sozialdemokrat Peter Strieder zur Wahlschlappe seiner Partei / Dem Senat und der SPD mangelt es an Selbstdarstellung / Vielen SPD-Senatoren fehlt soziale Sensibilität

taz: Die SPD hat in Kreuzberg bei der Europawahl 26 Prozent und damit rund drei Prozent weniger als bei der Kommunalwahl 1992 erhalten. Bündnis 90/ Die Grünen konnten mit 34 Prozent ihr stärkstes Ergebnis erzielen. Sind Sie überrascht?

Peter Strieder: Die Grünen waren in Kreuzberg schon immer sehr stark. Man darf nicht vergessen, daß die Wahlbeteiligung am Sonntag in Kreuzberg mit 48 Prozent rund zehn Prozent unter dem Westberliner Durchschnitt lag. Das ist sicher eine Ursache für das schlechte Abschneiden der SPD. Andererseits haben wir die Quittung dafür erhalten, daß eine Unterscheidung zwischen Rudolf Scharping und Helmut Kohl nicht mehr möglich ist. Und innerhalb der Großen Koalition in Berlin hat die SPD nicht gerade ein ausgesprochen eigenständiges Profil entwickelt.

In Ihrem Ostberliner Nachbarbezirk Treptow hat die PDS, wie allgemein im Ostteil der Stadt, große Gewinne erzielt. Wie soll Ihre Partei der PDS künftig begegnen?

Zunächst einmal darf man die PDS-Wähler nicht als Deppen der Nation beschimpfen, indem man ihnen beispielsweise erklärt, daß sie mit ihrer Stimmabgabe die CDU stärken würden. Wer so argumentiert, darf sich nicht wundern, wenn sich die Zustimmung für die Sozialdemokratie in Grenzen hält.

Offensichtlich sind große Teile des Westens davon ausgegangen, daß die DDR zu 90 Prozent aus Widerstandskämpfern und zu zehn Prozent aus Tätern bestand.

Wenn Stasimitarbeiter auf Dauer in der Arbeitslosigkeit gehalten werden und noch nicht einmal Aufseher in einem staatlichen Museum sein können, dann zeigt das die Versöhnungsunfähigkeit des Westens. Die Stigmatisierung strahlt natürlich auch auf diejenigen Mitglieder einer Familie aus, die davon gar nicht betroffen sind.

Plädieren Sie, wie jüngst der ehemalige Verfassungsrichter und Sozialdemokrat Mahrenholz, für eine Amnestie von Stasimitarbeitern?

Mit geht es um die Konsequenzen bei der sozialen Sicherung. Die meisten haben sich ja nicht strafbar gemacht. Sie fliegen aus dem öffentlichen Dienst, weil sie nicht angegeben haben, daß sie vor 20 Jahren kurzzeitig einmal für die Staatssicherheit Berichte geschrieben haben. Diese Unverhältnismäßigkeit ist, wie ich aus meiner früheren Tätigkeit im Arbeitsgericht aus eigener Erfahrung weiß, allen Beteiligten seit längerem bekannt. Das Land Berlin hätte schon längst einen Schlußstrich ziehen und zumindest Hierarchieebenen definieren müssen, bei denen es dann keine Rolle spielt, ob ein IM 1975 notierte, daß sein Nachbar oder Arbeitskollege einen Witz über Honecker erzählte.

Nach Ansicht des Landeswahlleiters hat die PDS noch lange nicht ihr gesamtes Wählerpotential ausgeschöpft, insbesondere unter den arbeitslosen Frauen im Ostteil. Hat die SPD auf dem sozialen Feld versagt?

Die SPD schafft es nicht, ihre eigentliche Programmatik darzustellen. Wenn wir sagen, wir wollen die Besserverdienenden belasten, glauben viele Wähler, daß sie darunter fallen. Es müßte deutlicher dargestellt werden, was die Ergänzungsabgabe an sozialer Entlastung im Gegensatz zum Solidaritätszuschlag der Bonner Koalition bringt. Auch in Berlin funktioniert die Selbstdarstellung nur unzureichend. Beispielhaft dafür steht das einmalige und fortschrittliche Arbeitsmarktkonzept der Arbeitssenatorin Christine Bergmann. Statt die Vorzüge und Neuerungen der Allgemeinheit, den Betroffenen selbst zu vermitteln, bleibt es überwiegend Insiderwissen für Spezialisten.

Die Wahlschlappe der SPD in Berlin ist also ein Problem der Außendarstellung?

Das ist eine Schwierigkeit, die den Senat als Ganzes betrifft. Im übrigen hat die SPD zu viele SenatorInnen, die glauben, man müßte sich in der Politik das Image des harten Industriesanierers zulegen, der nur Rücksicht auf die Aktionäre und nicht auf die Belegschaft nimmt.

Sie plädieren also für eine größere Zurückhaltung bei Privatisierungen, um das Profil der SPD zu schärfen?

Es ist vor allem eine Frage der Vermittlung. Wenn man als Senator Bürgerproteste bei einschneidenden Sozialmaßnahmen nur mit dem Finanzargument abwehrt, ohne sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen, dann erweckt man den Eindruck, als hätte man keine ausreichende Sensibilität für soziale Fragen. Interview: Severin Weiland