Kubas verlorene Generation

Viele Jugendliche in Havanna wollen nur noch für ein besseres Leben kämpfen, aber nicht mehr für den Staat / Und organisiert wird vor allem der Weg ins ersehnte westliche Ausland  ■ Aus Havanna Martin Beutler

Ausnahmsweise will sich die Clique heute mal wieder amüsieren gehen. Ihr Ziel: „Havanna Club“ – die angesagteste Diskothek der kubanischen Hauptstadt. Normalerweise eine Tabuzone, weil hier der Dollar herrscht. Doch einmal im Jahr erhält man vom kommunistischen Jugendverband UJC Anrechtsscheine auf Eintrittskarten, zehn Dollar würde man regulär zahlen – für Fabrikarbeiter fast ein Jahresverdienst. Aber sogar mit den Anrechtsscheinen des UJC kostet es immer noch fünf Dollar pro Paar – Geld, das man nur auf dem Schwarzmarkt oder aus dem Ausland bekommen kann.

Im „Havanna Club“ kostet jeder Drink noch einmal fünf Dollar. Roberto reicht diskret eine Sonnenmilchflasche herum, gefüllt mit billigem Zuckerrohrschnaps. Antonio nestelt eine eingeschmuggelte Dose Cola aus seiner Jacke – ein Schuß aus der Plastikpulle, einer aus der Dose: fertig ist der hausgemachte Cuba libre.

Um ein Uhr morgens hat sich die als „Joint-venture“ betriebene Disco bis an den Rand gefüllt. Gut 80 Prozent der Gäste sind Ausländer mit ihren jineteras, den auf Touristen spezialisierten kubanischen Prostituierten oder Frauen, die sich auf diese Weise gelegentlich etwas dazuverdienen. Die Tanzfläche: ein einziger Kontakthof. Um verfettete Grauhaarige schlingen sich schlanke nuß- und ebenholzfarbene Arme.

Die Clique schaut sich das Spektakel interessiert und ohne ein Zeichen moralischer Empörung an. Eher schon Bedauern empfindet Irina für zwei Mulattinnen über 30 und ist schließlich beinahe erleichtert, als sich doch noch zwei Mexikaner für die beiden finden. Irina und die anderen haben sich längst daran gewöhnt: Prostitution gehört (wieder) zum Alltag in ihrer Stadt. Ohnehin bestimmen die Marktgesetze immer mehr ihr Leben hinter der sozialistischen Fassade. Sex mit jineteras ist derzeit eben die begehrteste Ware, die ihr Land Ausländern zu bieten hat. Und Irina zitiert Fidel Castros berühmt-berüchtigten Spruch: „Unsere Nutten sind wenigstens gesund und gebildet.“

Was soll's – die anderen zucken die Achseln: Mit diesem Oberzyniker an der Spitze des Staates sind sie ohnehin fertig. Mit ihm und seinem ganzen System. Kuba – das ist für sie „Absurdistan“. Sie sind jetzte Mitte bis Ende Zwanzig, zum Teil hoch qualifiziert: ein Physiker, zwei Ärztinnen, ein Ökonom... Vor ein paar Jahren glaubten fast alle von ihnen noch an den Sinn und Zweck der Revolution. Doch spätestens mit der ausbleibenden Perestroika hörten sie allmählich auf zu „träumen“, wie Roberto sich ausdrückt. Sie durchschauten die „große Lüge“ und stellten schließlich ernüchtert fest: Hier und jetzt gibt es keine Zukunft mehr für sie. Panik überfällt sie manchmal, weil sie sich von der internationalen Entwicklung mittlerweile total abhängig fühlen. Konsequent hörten die meisten auf „zu funktionieren“: Abbruch des Studiums, raus aus der Arbeit.

Irinas Zimmer in einem Stadtteil von Havanna ist immer noch voller Insignien einer braven Kindheit im Kommunismus: das selbstgemalte Porträt Che Guevaras, die Urkunde für die Teilnahme an einem Jugendcamp, unterzeichnet von Roberto Robaina, dem jetzigen Außenminister. Unter all dem Krimskrams ein kleines Holzkästchen mit der Aufschrift: „Lo mejor del mundo“ – „Das Beste der Welt“. Wenn man neugierig die Deckelsperre löst, schießt eine lustige Sprungfederfigur hervor mit der Fortsetzung des Spruchs: „...son los amigos!“ Irinas Zimmer ist das Zentrum der Freundesgruppe – auf dem großen Bett drängen sie sich zusammen: auf der Suche nach wärmender Nähe in diesen harten Zeiten.

Alle haben sie Schatten unter den Augen, sind viel zu dünn. Nur unregelmäßig essen sie komplette Mahlzeiten, häufig fällt das Frühstück aus, es gibt kaum Vitamine und keine Milch – aus ihnen sind Hungerkünstler geworden. „Essen ist für mich nicht so wichtig“, sagt Teresa, „schlimm wird es erst, wenn die Zigaretten ausgehen.“ Aber komisch, meint Eduardo, die meisten Gespräche enden unweigerlich beim Thema Ernährung. Auf chronisch leeren Magen folgen all die täglichen Nervereien: stundenlanges Schlangestehen an der Bushaltestelle, an den Ausgabestellen für rationierte Waren, Fahrradfahren in der schwülen Hitze, ohne Gangschaltung und womöglich noch mit dem Freund oder der Freundin hintendrauf...

Hinzu kommen die kleinen und größeren Reibereien mit dem Regime, die Angst einjagen. Jeder kann ein Liedchen davon singen: Drei Tage Knast fürs Nacktbaden im Meer, Sanktionen wegen der langen Haare bei den Jungen, Ärger mit der Polizei beim Einkauf auf dem Schwarzmarkt, und überhaupt: der ständige Zwang zur Verlogenheit, zur Anpassung... „Niemand schlägt uns in Politikverdrossenheit“, sagt Antonio, der schon einmal Deutschland besucht hat. „Wir sind die ,verlorene Generation‘ Kubas. Unsere Eltern haben die Revolution gemacht – wir stehen vor deren Trümmern.“ Von hehren Idealen hat er die Schnauze voll. Kämpfen will er, aber nur noch für sich, für ein besseres Leben, nicht mehr für diesen Staat, in dem er sich überflüssig fühlt.

In Irinas „Hauptquartier“ wird der Absprung ins Ausland organisiert. Ironischerweise triumphieren hier die alten sozialistischen Erziehungsideale: In vorbildlicher gegenseitiger Unterstützung kratzen sie Dollars zusammen, um von den großen Hotels aus Faxe an Verwandte und Freunde im Ausland zu schicken. Tragen Infos über den aktuellen Stand der jeweiligen Asylbestimmungen zusammen, handeln auf dem Schwarzmarkt, um Geld für die Flugtickets zu sammeln.

Rauszukommen ist relativ einfach. Man braucht eine Einladung von Leuten, die sich dann für die Dauer des Aufenthaltes für einen verbürgen. Die entscheidende Frage stellt sich nach Ablauf der Aufenthaltsgenehmigung: zurückgehen oder dableiben? Wer bleibt, verliert seine Heimat, wird „für immer“ aus dem Castro-Clan ausgestoßen. Allerdings kann nicht jeder so ohne weiteres dem Land den Rücken kehren. Das notwendige Ausreisevisum wird Männern unter 28 Jahren verweigert, die noch keinen Militärdienst abgeleistet haben. Das gleiche gilt für „dringend benötigte“ Fachkräfte, die von ihrer Arbeitsstelle keine Genehmigung für den ersehnten Auslandstrip erhalten haben.

Irinas Tante Cecilia zeigt Fotos ihres Sohnes: dick vermummt und tapfer grinsend in einer Einkaufspassage von Stockholm; vor seiner Asylunterkunft; Arm in Arm mit der schönen schwedischen Schwiegertochter in spe. Auch der andere Sohn ist mittlerweile in Schweden. Wenigstens hätten sich ihre Kinder nicht wie so viele andere junge Leute in der Provinz auf diesen lebensgefährlichen Flößen aufs Meer gewagt ...

Erregte häusliche Diskussionen sind selten geworden, den Eltern sind die Argumente für die Verteidigung der Revolution ausgegangen. Irina sagt: „Wenn Mütter sehen, daß es ihren Kindern schlechtgeht, dann wird ihnen alles andere egal.“

Ein Abend im Malecón, der Uferpromenade von Havanna. Hier gibt es fast alles gratis: die sanfte Brise vom Meer, den karibischen Sternenhimmel – nur der Rum muß bei einem der vorbeiradelnden Schwarzhändler organisiert werden. Die Clique läßt die Flasche kreisen. Noch einmal kommt die alte Debatte auf, ob es eigentlich richtig ist, was sie tun, ob sie sich vielleicht doch Illusionen machen. Nein, sie gehören nicht zu der Mehrheit unter den Jugendlichen, die mittlerweile alles toll finden, wenn es nur „von drüben“, aus den USA, kommt. Irina und ihre Freunde wollen nicht nach Miami. Sie denken an Europa, an Kanada, und sie wissen: Das sind alles keine Schlaraffenländer.

Der Abend begann unter Scherzen und mit starken Sprüchen, und er endet mit Tränen. „Verdammt“, sagt Irina, „natürlich würde ich gerne hierbleiben. Das ist mein Land, und ich liebe es. Aber wenn ich nicht endlich den Absprung schaffe, dann verliere ich den Respekt vor mir selbst. Vor allem deshalb muß ich weg von hier.“