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Wie stark darf die Erde unter dem Reaktor beben?

■ Der Prozeß um die Genehmigung des AKW Mülheim-Kärlich geht in die Endphase / Schadenersatzklage gegen die Landesregierung droht

Koblenz (taz) – Der Prozeß um das Atomkraftwerk Mülheim- Kärlich vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz ging zu Wochenanfang in die entscheidende Phase. Während am Montag endlich der renommierte Vulkanologe Gerhard Jentzsch für die Kläger aus den Reihen der lokalen Bürgerinitiative und der betroffenen Kommunen zu Wort kam, verteidigte gestern der Gutachter Ludwig Ahorner seine Expertise, die der beklagten Landesregierung seinerzeit als Genehmigungsgrundlage für das Atomkraftwerk diente.

Ahorner, den die Anwälte der beigeladenen Partei RWE Energie AG nicht alleine in den Ring steigen lassen wollten, erhielt gestern fachwissenschaftlichen Beistand von Hans Burckhemer, einem der bekanntesten Erdbebenexperten der Republik. Doch Burckhemer wurde von den rund einhundert anwesenden AtomkraftgegnerInnen nicht als Obergutachter akzeptiert, weil er in der Vergangenheit selbst Gutachten für die CDU/ FDP-Landesregierung angefertigt hatte.

Im Kern ging es an beiden Prozeßtagen um die Frage, ob es im Umkreis von 300 Kilometern um den Standort Mülheim-Kärlich zu einem Erdbeben mit größerer Intensität kommen könne, als bei der Genehmigung der Anlage angenommen wurde. Ausgelegt wurde das Atomkraftwerk für ein Beben der Stufe 8 auf der entsprechenden Bewertungsskala („MSK- Wewrt“). Das sei, so die Gutachter Ahorner und Burckhemer, eine ausreichende Vorsorge, denn ein Beben der Stufe 9 könne – nach ihren Wahrscheinlichkeitsberechnungen – „vielleicht einmal in 10 Millionen Jahren“ auftreten. Außerdem sei es in den letzten tausend Jahren in der Region zu keinen Erdbeben gekommen, bei denen die Intensität von 8 MSK überschritten worden sei. Auf Nachfrage des Gerichts mußte Berckhemer allerdings einräumen, daß die Erdbeben des Mittelalters und der frühen Neuzeit „selbstverständlich nicht“ mit MSK-Werten aufgezeichnet worden sind.

Für den Gutachter der Kläger, Jentzsch, kann nicht nur deshalb ein Beben, daß die Auslegungs-Intensität des Atomkraftwerks überschreitet, „nicht ausgeschlossen werden“. Der Standort des Atomkraftwerks liege in einer „Schwächezone“ und sei deshalb bei „Resonanzen“ von Beben in der Umgebung besonders anfällig. Daß sich der Untergrund, auf dem der Atomreaktor errichtet wurde, aus zwei verschiedenen Erd- und Gesteinsformationen zusammensetzt, und daß sich am Rheingraben die afrikanische- und die eurasische Erdplatte aneinander reiben, mußte auch Berckhemer zugeben. Allerdings könne es hier nur zu sogenannten Trennungsbrüchen kommen. Für Erdbeben höherer Intesnität wären Aufschiebungen der Erdplatten notwendig.

Für den vom Gericht zum Gutachter bestellten Mathematiker von der Universität Bonn, Christopheit, ist dagegen die von den Gutachtern des Landes für die Genehmigungsunterlagen festgelegte Obergrenze „statistisch nicht zu akzeptieren“. Wegen der geringen Anzahl wissenschaftlich auswertbarer Beben sei der Unsicherheitsbereich zu groß: „Das wäre so, als wollte man einen 100-Meter-Lauf mit der Sonnenuhr stoppen.“ Der Prozeß geht heute mit den Plädoyers der Anwälte aller Verfahrensbeteiligter zu Ende. Ein Urteil wird erst nach der Sommerpause erwartet.

Sollten die Kläger tatsächlich obsiegen, wird sich Ministerpräsident Rudolf Scharping warm anziehen müssen. Denn dann wird RWE seine in Mülheim-Kärlich in den Sand gesetzten Millionen vom Land wiederhaben wollen. Die Grünen haben Scharping schon heute abgeschrieben. Wegen der drohenden Schadenersatzforderungen betrieben die Anwälte des Landes vor Gericht seit Wochen die Geschäfte der RWE und der alten CDU/FDP-Landesregierung, hieß es in einer Pressemitteilung der Landtagsgrünen. Klaus-Peter Klingelschmitt

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