Körperlos durch die Stadt

■ Wie Richard Sennett die Zukunft der Städte erklärte

Wenn sich prominenter Besuch aus New York ankündigt, ist das ansonsten eher zögerliche Hamburber Publikum plötzlich zuhauf da. Als bürge allein die Tatsache, daß jemand aus der zerfallenden Metropole am Hudson River kommt, schon für Qualität. So sprach denn auch der Kultursoziologe Richard Sennett zum Thema Der Körper und die Stadt nicht vor einer kleinen sozialwissenschaftlichen In-group, sondern in der Halle 6 auf Kampnagel vor vollbesetzten Rängen.

Wie andere vor ihm in der vom Literaturhaus veranstalteten Reihe „Perspektiven metropolitaner Literatur“ entwarf Sennett keine optimistischen Aussichten von zukünftigen Städten. Der Professor für Geschichte, Soziologie und Humanität (!) an der New York University vermißt gegenwärtig - immer eng an seiner eigenen New Yorker Perspektive angelehnt - die „physische Präsenz des Menschen“ im öffentlichen Raum. In den letzten Jahrzehnten, während der Microchip mit rasantem Tempo die Welt eroberte, ist „der Körper“ zu einem passiven Instrument degradiert worden. So sind aus den Städten die Berührung, die leibliche Erfahrung überhaupt, aber auch der Schmerz verschwunden. Sennett: „Die Berührungsangst ist in der modernen Gesellschaft, in der sich Individuen in ihrer Körpererfahrung eine Art Ghetto schaffen, größer geworden.“ Deshalb entstehen auch keine „Interaktionen“ zwischen den Menschen mehr, man geht aneinander vorbei, durchquert eine 20 Millionenstadt locker im Automobil und hat dennoch mit keinem einzigen Menschen auch nur ein einziges Wort gesprochen. Die Glasfiberarchitektur und Stadtplanung konstruiert dabei die klinisch-cleane Wunschvorstellung vom ideal geformten Körper. Daraus resultiert eine blockierte Kommunikation, und folglich könne, so Sennett, von lebendiger multikultureller Gesellschaft überhaupt noch nicht die Rede sein.

Ernüchtert stellt der Sozialwissenschaftler fest: „Das bloße Faktum des Verschiedenseins veranlaßt die Leute nicht dazu, miteinander Umgang zu pflegen.“ Er betrachtet die kulturellen Differenzen zwischen den Ethnien und Religionen als einen unverzichtbaren Wert, aber erst öffentlich ausgetragen entsteht aus den Unterschieden etwas wie gemeinsame Kultur. Doch „hat sich die jüngere Geschichte des Multikulturalismus in New York in eine separatistische Richtung bewegt“, so daß das kollektive städtische Bewußtsein, daß nämlich alle Einzelschicksale miteinander verflochten sind, langsam aber sicher abhanden kommt.

Stattdessen sieht es so aus: „Die Privilegierten schützen sich vor den Armen, und die Armen versuchen sich einen Panzer anzulegen, der sie allerdings nur vor denen schützt, die sie nötig haben“, resümiert Sennett.

Dierk Jensen